3. Kapitel

3.5K 268 33
                                    

"Words were different when they lived inside of you."

Benjamin Alire Sáenz - Aristotle and Dante Discover the Secrets of the Universe

JOSIAH

ER WAR einfach umgekippt. Ohne Vorwarnung. Von einem Moment auf den anderen haben sich seine Augen nach hinten verdreht und er ist leblos an der Wand hinuntergerutscht.
Die ersten drei Sekunden stand ich hilflos dort und wusste nicht, was ich tun sollte. Ich bekam Panik. Was war mit ihm?
Das war der Moment, in dem mein Hirn wieder rational zu funktionieren schien. Ich beugte mich hastig zu ihm hinunter, fühlte mit meinen Fingern nach seinem Puls, während ich laut nach Mrs. Rodriguez - der Krankenschwester –rief.
Meine Finger glitten über seinen Hals, suchten zitternd nach einem Pochen. Und wenn es nur ein leichtes, kaum wahrzunehmendes Pulsieren seiner Halsschlagader gewesen wäre, ich wäre damit zufrieden gewesen. Aber gar nichts zu finden, trieb mich fast in den Wahnsinn. War es meine Schuld? Hätte ich ihn vorhin einfach vorlassen sollen? Wenn er nur früher versorgt worden wäre, wäre das sicher nicht passiert.
Gott, wo war sein verdammter Puls?
Plötzlich spürte ich eine Hand an meiner Schulter, die mich mit überraschender Kraft zurückstieß. Es war Mrs. Rodriguez, die mir energisch ein Telefon in die Hand drückte und mich anwies, den Notarzt zu rufen. Ich warf einen letzten Blick auf den bewusstlosen, unnatürlich blassen Jungen, bevor ich mich hastig aufrappelte und hektisch den Notruf wählte. Sobald jemand abnahm, erklärte ich ihm mit unruhiger Stimme die Situation, nannte die Adresse der Schule und fragte, wie lange es dauern würde, bis ein Arzt hier wäre.
„Wenn's gut läuft, in fünf Minuten", antwortete die Frau an der anderen Leitung fast schon monoton. Es musste etwas sein, dass sie mehrmals am Tag sagte. „Bleiben Sie einfach ruhig, der Notarzt ist unterwegs."
Ich legte auf. Solche Faseleien konnte ich nicht gebrauchen. Von wegen ich solle ruhig bleiben. Hatte sie gerade jemanden einfach umkippen sehen oder ich?
Mir drehte sich der Magen um vor Gewissensbissen. Was, wenn es wirklich meine Schuld gewesen ist? Ich hatte doch gesehen, wie heftig er am Kopf geblutet hatte, ich hätte wissen müssen, dass es sich nicht um eine leichte Verletzung handelte. Aber andererseits hätte Mrs. Rodriguez das genauso sehen müssen. Sie hätte erkennen müssen, wer von uns beiden schwerer verletzt war, und danach zu urteilen wäre die Reihenfolge klar gewesen.
„Chico!", hörte ich die Krankenschwester rufen und ich brauchte einen Moment um zu kapieren, dass sie mich damit meinte.
„Hier, leg seinen Kopf auf deinen Schoß und press' das Tuch gegen seine Schläfe. Wir müssen irgendwie die Blutung stoppen."
Ich sollte seinen Kopf auf meinen Schoß legen? Als ich mich ein paar Sekunden lang nicht regte, funkelte sie mich wütend an.
„Ahora!"
Ich zuckte bei ihrem lauten Ton zusammen und tat wie mir geheißen, auch wenn es mir unangenehm war, seinen Kopf in meinem Schoß liegen zu haben. Wir kannten uns nicht und er schien mich nicht sonderlich zu mögen, also war es nur logisch, dass ich den physischen Kontakt so gering wie möglich halten wollte.
Das weiße Tuch, das Mrs. Rodriguez mir in die Hand drückte, blieb nicht lange weiß. Ich versuchte es mit der richtigen Menge an Druck gegen seine Wunde zu pressen, doch die Blutung schien nicht stoppen zu wollen. Schon bald waren meine Hände von seinem Blut befleckt und ich musste den Blick abwenden, damit mir nicht schlecht wurde. Stattdessen schaute ich in sein makelloses Gesicht.
Nun, da seine durch dringenden braun-grünen Augen geschlossen waren, sah er um einiges friedlicher und entspannter aus, fast so, als würde er schlafen. Seine dunklen Wimpern warfen einen Schatten auf seine hohen Wangenknochen und seine ungewöhnlich dunklen Lippen lagen sanft aufeinander, ließen genau in der Mitte seiner Lippen eine kleine Lücke offen.
Ich wandte meinen Blick von seinem Mund ab und nahm prüfend für einen kurzen Moment das Tuch von seiner Schläfe. Es hatte zwar nicht aufgehört zu bluten, aber es war deutlich weniger geworden. Etwas erleichtert presste ich das blutdurchtränkte Tuch wieder auf die Wunde, strich ihm jedoch vorher vorsichtig die dunkelblonden Haare von der Stelle. Einige seiner Haarspitzen waren bereits rot.
Während ich sein Gesicht so betrachtete, fragte ich mich, wie die Verletzung zustande gekommen ist. Hatte er sich geprügelt? Mir waren vorhin schon die leichten Abdrücke auf seinem Hals aufgefallen, als ich panisch nach seinem Puls gesucht hatte. Es sah so aus, als hätte ihn jemand gewürgt.
Ich sollte aufhören, darüber nachzudenken. Es ging mich nichts an.
Gott, wo blieb denn dieser verdammte Krankenwagen?
Wie aufs Stichwort hörte ich von weitem die Sirenen und es war nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Sanitäter und der Notarzt mithilfe des Schulleiters in dem Flur eintrafen. Ich wurde fast schon gewaltsam aus meiner Position gerissen und konnte nur reglos daneben stehen und mitansehen, wie sie ihn auf eine Liege legten, seinen Puls kontrollierten und ihm eine Atemmaske zur Stabilisierung aufsetzten.
Ob von der Hektik, der Lautstärke von den ganzen Leuten oder all den Bewegungen - er öffnete plötzlich seine Augen. Und für eine halbe Ewigkeit schien ich der einzige zu sein, der bemerkt hatte, dass er wieder wach war. Sein Blick glitt in einer Ruhe umher, die ich nicht verstand. Es war, als würde es ihn nicht im geringsten überraschen, dass er gerade auf einer rollenden Liege abtransportiert wurde. Dann trafen seine Augen auf meine. In seinem Blick änderte sich nichts - noch immer der selbe emotionslose, monotone Ausdruck - doch er wandte ihn auch nicht ab. Und ich schaute auch nicht weg. Ich starrte ihm einfach hinterher, in mir herrschte plötzlich eine ungewöhnliche Ruhe, aus der mich selbst das hektische Geschehen um mich herum nicht mehr bringen konnte. Und dann verschwanden sie um die Ecke, und er somit aus meiner Sicht.
Das war der Moment, in dem ich bemerkte, dass ich das von seinem Blut durchtränkte Tuch noch immer in der Hand hielt.

Der Vorfall von heute Morgen hatte sich relativ schnell in der Schule herumgesprochen. Spätestens zum Mittag wusste jeder davon Bescheid.
Ich saß in der Cafeteria und bekam hin und wieder mit, wie sich Schüler aufgeregt darüber unterhielten. Dabei hörte ich die kuriosesten Geschichten darüber, wie sich das Ganze wohl zugetragen hatte.
Ein paar der jüngeren Schüler waren der festen Überzeugung, dass Maddox Thompson - so nannten sie ihn - einen Autounfall gehabt hatte und deswegen nun mit einer schweren Kopfverletzung im Krankenhaus lag. Viel glaubwürdiger hingegen erschien mir das, was sich die Älteren gegenseitig erzählten; wie es schien, hatte Maddox eine Auseinandersetzung mit einem seiner Mitspieler aus dem Footballteam und dabei wohl eine gewischt bekommen. Ich konnte mir zwar nicht wirklich vorstellen, wie jemand so heftig zuschlagen konnte, dass der andere eine Platzwunde an der Schläfe davontrug, doch das würde zumindest erklären, woher Maddox diese Abdrücke auf seinem Hals hatte.
„Und ich hab ihn Minuten vorher noch gesehen", heulte eine hohe Stimme und ich drehte mich irritiert um. Ich erblickte Kylie nicht weit von mir auf einer Bank sitzen, umrundet von einer Schar Mädchen, die ihr mitleidig zuhörten und ihr hin und wieder ein Taschentuch anboten.
Warum in alles in der Welt weinte sie jetzt?
„U-Und dann bin ich einfach weggegangen, hätte ich ihn doch bloß nicht alleine gelassen", schluchzte sie theatralisch und schnäuzte sich gleich darauf geräuschvoll die Nase. „Wahrscheinlich hat er mir die ganze Zeit versteckte Hinweise gegeben, dass es ihm nicht gut geht und ich hab sie einfach ignoriert. Wie soll ich mir das jemals wieder verzeihen können?"
Ein Heulkrampf durchschüttelte ihren kleinen Körper und für ein paar Sekunden lang schien sie nicht ansprechbar zu sein. Die Mädchen um sie herum tuschelten alle durcheinander, versuchten sie zu beruhigen und wiederholten immer und immer wieder, dass es nicht ihre Schuld war und sie ihn einfach nach der Schule im Krankenhaus besuchen sollte.
Ich schüttelte genervt den Kopf und wandte mich von ihnen ab. Ich hatte schon vorher nicht viel von Kylie gehalten, aber diese Situation auszunutzen, um sich selbst in den Mittelpunkt der Geschehnisse zu bringen, war das Allerletzte. Ich konnte plötzlich verstehen, warum Maddox sie so harsch abblitzen lassen hatte.
Aber was wusste ich schon.
Nachdem ich mein fades Mittagessen beendet hatte, machte ich mich auf den Weg zu meinem nächstem Kurs.
Englisch.
Ich hatte zwar noch ungefähr eine Viertelstunde, aber da ich mich erst einmal zurecht finden musste, traf sich das ganz gut. Außerdem hatte ich vorgehabt, noch bei meinem Spind vorbeizuschauen, der sich nebenbei gesagt am anderen Ende der Schule befand.
Auf meinem Weg durch die Gänge der Schule begegnete ich kaum jemandem. Sie waren alle entweder draußen die Sonne genießen, oder in der Cafeteria Mittagessen. Es war still.
Ich fand meinen Spind schneller als erwartet. Ich wusste nicht was es war, sie alle sahen gleich aus -grau, eingedellt, ranzig - und trotzdem wusste ich sofort, dass der Fünfte von links meiner war. Vielleicht lag es auch daran, dass er der einzige Spind war, dessen Schloss fehlte. Ich hatte bei so etwas immer das Glück.
Ich öffnete genervt die Tür des Schließfaches, sie stieß mit einem lauten Knallen gegen den Spind daneben. Ich wollte gerade meine Tasche reinschmeißen, als mir etwas Rotes ins Auge stach. Ich ließ die Tasche sinken und griff in den Spind. Ein Flyer. Ich warf einen kurzen Blick darauf, bevor ich den Spind auf weitere Sachen absuchte. Und tatsächlich - als ich das obere Fach abtastete, hielt ich plötzlich das Schloss in der Hand. Vielleicht hatte ich doch nicht so viel Pech, wie gedacht.
Als ich das Fach zugeschlossen hatte, bemerkte ich, dass ich den Flyer immer noch in der Hand hielt. Es war eine Aufforderung, beim Training des Footballteams vorbeizuschauen, auf der Rückseite standen die Trainingszeiten des Teams.
Einen Moment lang spielte ich wirklich mit dem Gedanken, mir das mal anzuschauen. Ich hatte schon einmal eine Zeit lang Football gespielt, musste jedoch aufhören, nachdem ich eine langwierige Verletzung am Fuß erlitten hatte. Und danach war ich einfach nicht mehr in Form, wurde bereits ersetzt und die Chancen, wieder genau so gut zu werden wie vorher, waren eher gering gewesen, weshalb ich es einfach ganz aufgegeben hatte. Doch nun, wo ich diesen knallroten Zettel in der Hand hielt, die Farbe beinahe so hell, dass sie mich fast blendete, wusste ich plötzlich nicht mehr, ob das wirklich die richtige Entscheidung gewesen war. Aber dann dachte ich an den zweiten Grund für meinen Austritt und mir wurde wieder klar, dass das die absolut richtige Entscheidung gewesen war. Ich hätte unter diesen Umständen einfach nicht weiterspielen können- ob verletzt oder nicht, ob gewollt oder nicht.
Aber das war Vergangenheit. Vielleicht sollte ich damit abschließen und hier einfach von vorne anfangen.
Ich drehte den Flyer um.
Training beginnt morgen um zwölf Uhr.
Ich sollte von vorne anfangen.

Paper Planes - Alles schwarz und weiß: Eine LeseprobeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt