Kapitel 9: Theorien

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Am nächsten morgen wälzte ich mich ziemlich fertig aus dem Bett. Oder viel mehr: ich rollte. Zu mehr war ich auch nicht in der Lage.

Meine Gedanken hatten lange noch um eine Tatsache gekreist:
Er hatte gesagt auf Wiedersehen. Nicht: Lebe wohl oder Tschau oder gar nichts. Nein. Er hatte gesagt „auf Wiedersehen". Und ich freute mich schon über dieses kleine bisschen Zuneigung wie ein Hund über einen Keks. Ein wenig peinlich beschloss ich und verdrängte Loki, Prinz von Asgard aus meinem Gedächtnis. Naja. Verdrängen. Ich tat einfach so als würde ich nicht die ganze Zeit an ihn denken müssen. Dauerhaft.

Ich war eine aktive Hasserin jeglicher Liebesfilme oder Romane. Jeglicher romantischer Kitsch kam mir erstens zu überdreht und zweitens einfach absolut dämlich vor. Und die seltsame Kacke selbst zu empfinden war einfach ein wenig scheisse. Schließlich hatte ich mich doch selbst fast auf die Seiten von Twilight übergeben, als ich es zum 7ten mal aus purem Selbstzerstörungswahn gelesen hatte. Peinlich peinlich. Die Truse war einfach zu uneigenständig und das personifizierte Blöde. Mehr nicht. Und ich hatte das sanfte und stetige Gefühl das ich mich langsam in sie verwandelte. Ich spürte wie mir ein IQ-Pünktchen nach dem anderen flöten ging.

Genervt von meiner eigenen Dummheit   und auch sonst ziemlich am Ende, stand ich 39 Minuten später vor unserem Kühlschrank. 39 Minuten war eine relativ gute Bilanz für mich. Was nicht daran lag das ich mich schminkte (zu faul und untalentiert) oder mir die Haare machte ( ebenfalls ein totales Desaster), ich stand einfach teilweise einfach nur vorm Spiegel und starrte wie in Trance hinein. Manchmal auch unter der Dusche. Wie schlafen mit offenen Augen. Mein Hirn war einfach nicht in der Lage um diese Uhrzeit normal zu arbeiten.

Freitags Schule war generell furchtbar. Und für mich noch ein kleines bisschen schlimmer als sonst. Meine freudige Aufgabe war es Freitags 1 Stunde früher als sonst auf zu stehen und meinen kleinen liebenswerten Bruder an seiner Grundschule abzuliefern. Um 6:30 mit einem 6 jährigen zu diskutieren war schwer. Vor allem wenn wenn es ums Essen ging.

„Ich mag aber keine Salami!", nörgelte Finn und lehnte sich über seine Stuhllehne nach hinten. „Gestern hast du noch gesagt es sei deine Lieblingswurst und die würdest du den gaaaanzen Tag essen. Wenn du dürftest.", ahmte ich ihn nach und stellte das Brettchen mit einem lauten rummsen vor ihm ab,
„Also iss."
„Ich will aber Nutella!", motzte er und starrte mich feindselig an. So viel Energie und Hass um diese Uhrzeit. Wegen eines Brotaufstriches.
„Okay jetzt hör mir mal zu! Kein Nutella, das weißt du auch. Wir können gerne tauschen wenn du willst. Du kriegst dann Käse."

Demonstrativ klatsche ich das Käse Toast auf seinen Teller. Angeekelt starrte er ein paar Sekunden auf den müffelnden Gorgonzola. Den besten Käse der Welt wohl angemerkt. Was gut schmecken soll, muss auch ein wenig müffeln war die Devise meines Vaters.

„Neeee.", knatschte Finn, steckte dann aber doch beleidigt seine Salami Stulle ein. „Du bist doof."
„Ich weiß, ich hab dich auch lieb.", murmelte ich resigniert und schickte ein Stoßgebet zu Gott. Neue Nerven wären geil.

Schultaschen gepackt, Brot in der Dose und 53 Minuten quälend lange Busfahrt, eingequetscht zwischen nörgelnden Rentnern, später, kam ich nun mit der kleinen Heulboje vor seiner Schule an. Schweigend standen wir da und er starrte einfach nur mit einem Blick, der teils aus Hass und teils aus Resignation bestand, auf das Regenbogenfarbene Gebäude. Lachend wuschelte ich ihm durch die hellbraunen Locken die in allen Richtungen von seinen Kopf abstanden: „Keine Lust auf Schule?"
Er grummelte nur als Antwort und wuchtete sich den Rucksack auf den Rücken. Ich war jedes Mal beeindruckt, das Ding war mindestens halb so groß wie mein kleiner schmächtiger Bruder.

Immer noch grinsend umarmte ich ihn mit einem unausweichlichen Klammergriff und drückte ihm einen großen Schmatzer auf die Wange. Dann pikste ich ihn nochmal auf das Grübchen auf der Linken Seite. Die ganze Zeit über versuchte er sich halbherzig loszureißen und stürmte schließlich, mit hoch- und runterhüpfendem Ranzen, zu seinen Freunden. Natürlich ohne mir noch einmal zu zu winken. Gespielt beleidigt wischte ich mir die nicht existente Träne von der Wange und drehte mich um.

„Ach ja! Sie werden so schnell erwachsen!", ertönte hinter mir eine Stimme bevor ich von einer riesigen Wucht umgeworfen wurde. Diese Wucht bestand aus meiner kleinen, schmächtigen Freundin Flo die sich soeben mit voll Karacho auf mich drauf geschmissen hatte.

Das einzig gute an Freitagen bestand daraus das Flo und ich die letzten 20 Minuten zusammen laufen konnten.

So wie jeden Freitag wand ich mich kurz noch zur Tür und warf einen Blick auf Flos Mutter: „Auf Wiedersehen Frau Weber! Noch einen wunderschönen Guten Morgen!"

Frau Weber die ihre drei Töchter , allesamt in der dritten Klasse und Strohblond, gerade in Richtung Grundschule schickte starrte nur vor sich hin.
Kein Wunder, Drillinge zu bekommen war ja schon so anstrengend genug, aber das diese auch aussahen wie kleine Engelchen,
sich kleideten wie kleine Prinzessinnen und sich kloppten wie die Kesselflicker war eine andere Sache. Während wir uns entfernten rannte Eloise (oder war es Eryn) mit wehendem Lilifee-Kleidchen auf eine ihre Schwester zu und tackelte sie wie ein Profi Wrestler nieder. Ohne Gnade.

„Das ist meiner Haarspange!",quietschte es hinter uns. „Gar nicht war! Das ist meine! Da steht mein Name drauf!", tönte es in Fledermausfrequenz zurück.
„Also ich finde Eryn hat recht!"
„Halt den Mund Lilou! Du hast doch gar keine Ahnung!"

Leicht panisch beschleunigten wir unsere Schritte. Nur schnell weg von diesen blonden Teufeln.
„Immer wieder bin ich erleichtert, dass ich nicht das gleiche Los gezogen habe wie du! Es ist als ob der Satan höchstpersönlich euch einen Geschenkkorb geschickt hat."
Flo grunzte nur zustimmend und runzelte die Stirn: „Heute Nacht  haben Sie Drei stunden lang wegen Hannah Montana gestritten. Oder so. Ich komm da nicht mehr mit." 

Grinsend schlang ich einen Arm um sie: „Wie gut das die Liebe Florence so stahlharte Nerven hat, nicht wahr!" , „Halt den Mund! Florence ist mit Abstand der grauenhafteste Name aller Zeiten! Das klingt so verzweifelt originell!", sie schüttelte sich, „Verflucht seien meine französischen Wurzeln!" Sie schüttelte ihre Faust dramatisch in Richtung Himmel.

Kurz darauf verfielen wir beide in ein seltenes Schweigen. Flo starrte mich mit ihren Hellblauen Adleraugen von der Seite an. Ich vermied wohl wissend Augenkontakt, denn Flo besaß das Talent alle Infos aus mir heraus zu kitzeln. Nach einigen Minuten beschloss ich einfach ins kalte Wasser zu springen. Lieber schnell mit der Halbwahrheit raus und ein wenig Ruhe haben als später wie eine wahnsinnige von einem Gott erzählen. Der schon zweimal in meiner Küche dass und gerne Minute trank.

„Glaubst du an Götter? Also so an das übersinnliche? Nicht so: Gott ist überall sondern- ne übersinnlich ist auch falsch...ich meine...kein Plan was ich meine...." , ich schluckte, „glaubst du da ist noch was außer uns?"

„Häh?", Flos Augen waren während meines minutenlangen Stammelvortrag immer größer geworden doch jetzt blickte sie mich mit einer Mischung aus Interesse und Angst an. Angst um meine Psyche wie es schien. „Aliens?"

„Nein. Ich meine...glaubst du da ist, rein theoretisch,  noch was oder wer der sagen wir mal...mehr kann als wir? Andere Dinge kann als wir? Der einfach vergessen wurde? Sowas wie- Götter?", ich atmete tief ein,
Flo und ich beredeten öfters die seltsamsten Theorien und manchmal würde es etwas skurril, doch dieses Mal war die Stimmung eine andere. Wir merkten beide, dass diese Unterhaltung irgendwie anders war. Wichtiger.
Denn ich wollte wissen ob ich auf sie zählen konnte. Selbst wenn wir nie darüber reden sollten.

„Was ist wenn, irgendwie, früher Götter da waren? Unter uns? In echt als Menschen? Also nicht Menschen aber du weißt was ich mein? Und dann sind sie weggegangen! Mit allem was sie wussten und konnten! Mit allem! Und zurück blieben nur Märchen und Alte Schreine. Und keiner kennt mehr die Wahrheit."

Sie schwieg ein paar Sekunden lang. Man sah praktisch wie Ihre Gehirnzellen ratterten, dann schluckte sie, „Ganz ehrlich? Nein."
Dann blickte sie mir einen Moment tief in die Augen, „ Aber ich hoffe es."

Dann gingen wir schweigend weiter.

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