8 | Gib mir noch eine Chance

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• Stonefox - Talk Me Home •

Ich laufe gerade die dunklen Straßen entlang, nachdem ich eine betrunkene Mira zu Hause abgeliefert habe. Gott sei Dank waren ihre Eltern nicht da, sondern nur ihre Schwester, die sie schließlich mit mir zusammen nach oben auf ihr Zimmer getragen hat. 

Mira ist mir auf jeden Fall etwas schuldig. Wegen ihr werde ich morgen früh ganz bestimmt einen Muskelkater haben. Sie hat den gesamten Weg nach Hause lallend von einem Kerl geschwärmt, mit dem sie auf der Party rumgemacht hat. Als wäre es nicht schlimm genug, sie zu tragen, während sie wie ein Sack Kartoffeln an meiner Schulter hängt, musste ich mir auch noch anhören, was für tolle Kusstechniken der Typ hatte.

Sie war so dicht, dass ich ihr nicht einmal von der Sache mit Rhys erzählen konnte, obwohl ich ihren Rat in diesem Moment mehr als jemals zuvor benötigt hätte. Ich brauch einfach jemanden, der mir sagt, was ich tun soll. Und damit meine ich keinen Jungen, den ich eigentlich nicht kenne, sondern meine beste Freundin. Ich weiß, was sie mir in so einem Moment raten würde, aber dennoch: Ich muss es einfach noch einmal hören. Muss hören, dass ich nicht schuld bin, dass es mein gutes Recht ist, sauer auf ihn zu sein.

Ich laufe gerade von Miras Haus zu mir. Theoretisch könnte ich auch mit dem Auto fahren, wie die meisten in meinem Alter. Immerhin besitze ich einen Führerschein. Nur leider fehlt mir das Auto dazu. Manchmal darf ich mit dem Auto meiner Eltern fahren, aber ich kann es immer noch nicht abwarten, bis ich mir endlich mein eigenes kaufen kann.

Natürlich könnte ich auch meine Eltern anrufen, damit sie mich abholen, aber ehrlich gesagt, tut mir diese kühle Nachtluft gerade ziemlich gut. Außerdem möchte ich den beiden gerade lieber nicht begegnen. Wenn Rhys tatsächlich zu mir nach Hause gefahren ist und mit ihnen geredet hat, werden sie viele Fragen haben und obwohl ich Rhys in diesem Moment hasse, will ich doch nicht, dass auch sie ihn hassen.

Es ist dunkel. Auch, wenn ich die kühle Luft und den schönen Nachthimmel genieße, fühle ich mich ein wenig unwohl dabei, so spät noch ganz alleine durch die leeren Straßen zu laufen. Bei jedem noch so kleinen Geräusch zucke ich zusammen und laufe noch schneller, bis ich schon jogge und dabei fast in jemanden hinein laufe. Es dauert keine zwei Sekunden, bis ich ihn trotz Dunkelheit erkannt habe.

»Eve!« Rhys bleibt vor mir stehen. Er stützt die Hände auf den Beinen ab und beugt sich nach vorne, während er nach Luft schnappt. Jetzt wäre vermutlich der perfekte Zeitpunkt, um davonzulaufen, aber ich kann ihn nur anstarren, als er den Finger hebt, um mir zu signalisieren, dass er noch einen Moment braucht.

»Was tust du hier?«, schreie ich, als ich meine Stimme endlich wiedergefunden habe. Ich starre ihn fassungslos an.

Nachdem er sich wieder gesammelt hat, packt er mich an den Schultern. Einige Sekunden verstreichen, in denen er mich einfach nur mit weit aufgerissenen Augen anstarrt, bis er mich schließlich in seine Arme reißt. Ich bin viel zu entsetzt, um ihn von mir zu stoßen. »Oh Gott, ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe.«

»Was?«

Er drückt mich von sich, ohne die Hände von mir zu nehmen. »Du bist auf einmal verschwunden. Ich war bei dir zu Hause, aber deine Eltern meinten, du seist nicht da. Du warst auch nirgendwo sonst zu finden und bist nicht an dein Handy gegangen. Ich dachte, dir sei etwas passiert.«

»Es geht mir gut«, sage ich, schlage dann seine Hände weg und zische: »Warum bin ich wohl weggelaufen? Warum habe ich nicht auf deine Anrufe reagiert? Was glaubst du, warum?« Mit jedem Wort wird nicht nur meine Stimme lauter, sondern ich schubse ihn auch. Ich war noch nie gut darin, meine Wut unter Kontrolle zu halten. Am Ende bin ich so sauer, dass ich all meine Kraft benutze, um ihn ein letztes Mal zu schubsen. Er stolpert zurück und schwankt, kann sich aber in letzter Sekunde noch vor einem Sturz bewahren.

Das alles verschafft mir jedoch immer noch keine Genugtuung. Ich bin immer noch so wütend, dass ich einen Schritt nach vorne gehe und ihn noch einmal schubsen möchte, aber in letzter Sekunde hält er meine Hände fest. Plötzlich taucht das Bild von Sofia und ihm wieder vor meinem inneren Auge auf. Wütend fange ich an, zu kreischen und will meine Hände aus seinen befreien, aber er ist stärker als ich.

»Hey, hey. Ba- ich meine Eve.« Er hält meine Hände immer noch fest. Ich schaffe es nicht, mich seinem Griff zu entziehen und benutze stattdessen meinen Fuß, um ihn zu treten. Einfach nur um irgendetwas zu tun, um dieses lodernde Brennen in meiner Brust zu löschen. 

Die Verzweiflung ist ihm anzusehen. Er findet keinen Weg nun auch meine Füße festzuhalten und scheint es schließlich einfach über sich ergehen zu lassen. »Eve, hör mir zu. Ich weiß, dass du sauer bist. Du hast alles Recht der Welt. Ich bin ein Arschloch und ich-«

»Lass mich los.« Meine Stimme ist so leise, dass er mich nicht verstanden haben kann, aber wenigstens hält er mitten im Satz inne und sieht mich an. Ich versuche um mich zu schlagen und schreie dieses Mal: »Lass mich verdammt nochmal los!«

Meine Stimme überschlägt sich so sehr, dass Rhys mich vor lauter Schock tatsächlich loslässt und dabei noch einen Schritt zurücktaumelt. Er starrt mich mit großen Augen an. Einige Sekunden vergehen, in denen wir uns einfach nur gegenüberstehen und nichts sagen. Das einzige Geräusch ist das laute Atmen von uns beiden.

»Eve«, flüstert Rhys auf einmal. Er traut sich, wieder einen Schritt auf mich zuzugehen. »Ich habe nicht mit ihr geschlafen. Wir haben uns nur geküsst.« Er zuckt bei seinen eigenen Worten zusammen. »Ich weiß, das ist eine beschissene Aussage, aber du musst wissen, dass wir nicht miteinander geschlafen haben. Ich war nur so betrunken und dann kam sie zu mir und... Wir haben ein bisschen rumgemacht. Mehr war da nicht.«

Ich antworte nicht.

Der Ausdruck in seinem Gesicht drückt pure Verzweiflung aus. Er will eine Hand ausstrecken, um mich zu berühren. »Du liebst mich immer noch, das-«

»Na und?«, schreie ich, weil ich wohl nichts anderes mehr kann außer zu schreien. Ich will nur noch diese Wut aus meinem Körper herausschreien. »Was bringt es, wenn ich dich liebe, du mich aber nicht? Sag es mir, Rhys. Meine Liebe reicht nicht für uns beide. Ich kann das nicht mehr-«

Rhys zuckt zusammen. Er sieht mich an, als hätte ich ihn geschlagen. »Eve...«, sagt er wieder und ich fange an zu weinen. Eine Sekunde später ist da Rhys' Körper. Er hat die Arme um mich gelegt und drückt mich an sich. Ich höre sein Herz an meinem Ohr schlagen, als er mich noch fester an sich drückt. So als könnte er mich nicht nah genug an sich heranlassen.

Minuten verstreichen, in denen ich einfach nur dastehe und an Rhys' Brust weine. Als mein lautes Schluchzen langsam abebbt, spüre ich Rhys' Hände, die mein Gesicht umfassen. Er sieht mich eindringlich an. »Bitte«, flüstert er. »Bitte gib mir noch eine Chance. Ich weiß, ich hab's heute total verbockt. Ich war ein Arsch. Ich verdiene dich nicht, aber ich weiß, dass du mich noch liebst, Eve.«

In diesem Moment bleibt die Zeit stehen. Es ist, als stünden wir stundenlang einfach nur da, in einem leeren Park, mitten in der Nacht. Ich zittere und irgendwann bemerkt Rhys das. Er drückt mich von sich, um mich ansehen zu können. Dann bemerkt er das Kleid. »Gott, Eve.« Seine Augen leuchten. Ich weiß, dass er das Kleid an mir liebt. Nur aus diesem Grund habe ich es heute Abend überhaupt angezogen. Ich wusste zu dem Zeitpunkt noch nicht, dass ich damit durch die halbe Stadt spazieren würde.

Er schüttelt den Kopf, als müsste er sich selbst wieder sammeln, dann zieht er seine Jacke aus und legt sie mir um die Schultern. Sie ist noch warm und riecht nach ihm. Ohne es wirklich zu wollen, schmiege ich mich in ihren weichen Stoff und atme seinen vertrauten Geruch ein.

Rhys nimmt wieder mein Gesicht zwischen die Hände und zwingt mich dazu, ihn anzusehen. »Okay?« Es ist nur ein Wort, aber ich weiß, wie viel wirklich dahinter steckt.

Seine Locken stehen ihm wirr vom Kopf ab, als er auf meine Antwort wartet.

»Du hast nicht mit ihr geschlafen?«, frage ich leise.

Rhys scheint überrascht über diese Frage zu sein. Es dauert eine Sekunde, aber dann nickt er.

»Sofia und du... Ihr habt nur miteinander rumgemacht? Es gab keinen Sex?« Ich sehe ihm tief in die Augen. »Und es war auch nur dieses eine Mal?« Bei der Erinnerung an das Bild von Sofia und Rhys zusammen auf diesem fremden Bett, wird mir ganz schlecht. Ich ziehe die Jacke enger um mich. »Versprich es mir, Rhys. Versprich mir, dass es nie wieder vorkommt. Dass du mich nie wieder betrügst.«

Rhys nickt. »Versprochen, Eve. Ich verspreche alles, was du möchtest.«

Kickass [PAUSIERT] Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt