6| Des Gedankenlesers Vorstellung

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»Vielen Dank, dass ihr ...« Rosies Ansprache versank im Lärm der quasselnden Gäste. »Entschuldigung, könnten Sie kurz leise werden?« Nichts geschah, die Zuschauer schienen sie in ihrer Aufregung einfach zu überhören. Rosie warf einen verzweifelten Blick zu ihren beiden Helfern. Diese schienen die einzigen zu sein, die sie gerade beachteten.

»Ruhe«, brüllte Johann. Alle Augen wandten sich ihm zu. Mit einer ausladenden Handbewegung deutete er auf die wartende Wirtin. »Die Vorstellung beginnt! Sie wird ein schöneres Erlebnis für alle, wenn der Geräuschpegel nicht so ohrenbetäubend ist.«

»Vielen Dank, Johann.« Endlich konnte sie anfangen. Sie schluckte, fasste ihre Notizen etwas fester und begann mit ihrer Begrüßung: »Herzlich willkommen hier in der Herberge Zum Alten Birnbaum, ich freue mich, dass ihr alle Zeit gefunden habt, zu dieser spontanen Vorstellung zu kommen.« Unauffällig warf sie einen Blick auf ihre Karte. Vorstellen stand dort ganz oben. Das hatte sie wohl übersehen. »Falls ihr euch fragt, wieso ich hier vorne stehe, dann kann ich euch sagen: Ich bin nicht die jungfräuliche Assistentin des Meisters, nein, ich bin die Herrin dieses Hauses, Rosie Buttermann. Die Meisten kennen mich ja schon, also war das irgendwie unnötig. Wie dem auch sei, werde ich euch alle, sehr geehrte Gäste, durch diesen Abend führen.«

War es schon Zeit, den Gedankenleser hereinzubitten? Sie warf einen kurzen Blick auf ihre Stichpunkte. Ach nein, nun waren die Hintergründe dran. Samuel hatte sich ungemein stark dafür gemacht, dass Rosie ihren Gästen auch davon erzählte, warum dieser Termin so spontan gemacht wurde und nicht - wie sonst üblich in Feldbirn - Monate vorher angekündigt war.

»Dieses Ereignis kommt auch für mich sehr überraschend, umso mehr freue ich mich, dass sie alle es einrichten konnten, zu erscheinen. Erst gestern Abend, habe ich von May, Johann und Samuel erfahren, dass mein neuester Gast diese besondere Fähigkeit hatte. Im Skat hat er beeindruckend gewonnen, in dem er die Gedanken seiner Gegner gelesen hat. Das mag man für unlauter halten, aber immerhin war es recht unterhaltsam.« Das Gemurmel im Saal wurde immer lauter, Rosie musste die Sache etwas abkürzen, sonst bedürfte sie wieder Johanns.

»Jedenfalls habe ich ihn dann gefragt, ob er nicht einen Auftritt haben wolle und sie sehen, was daraus geworden ist. Nun bitte ich Sie alle um einen großen Applaus für den Gedankenleser, Iacobus Gryphus!«

Verhaltenes Klatschen vonseiten der Gäste, einzig ihre fleißigen Helfer applaudierten, was das Zeug hielt. Ehe sie zur Tür gehen konnte, öffnete sich diese bereits in einem Schwung und Gryphus trat herein. Mit langen Schritten durchmaß er den Raum bis er an Rosies Seite stand. »Hallo Rosie, vielen Dank für die freundliche Begrüßung.«

»Gut beginnen wir. Wir bräuchten einen Freiwilligen, wer hätte Lust?«, richtete sie das Wort an das Publikum. Ruhe breitete sich im Raum aus. Die Gäste schauten entweder zu Boden oder im Raum herum, begierig zu erfahren, wer wohl das erste Versuchskaninchen würde. »Na kommt schon, einer wird sich doch wohl trauen!« Immer noch blieb die Stube ruhig.

»Soll ich mal einschreiten?«, flüsterte Iacobus ihr zu.

Rosie antwortete ihm mit gesenkter Stimme: »Wäre wohl das Beste.«

Gryphus wandte sich zum Publikum und ließ seinen Blick schweifen. »Nur weil ihr euch nicht traut hervorzutreten, heißt das nicht, dass ich nicht erspürte, dass ihr es wollt. Ich wäre ein schlechter Gedankenleser, wenn ich das nicht könnte. Ich gebe Ihnen nun drei Sekunden von selbst aufzustehen, ehe ich einen von Ihnen, liebe Gäste, auswählen werde.«

Leichtes Getuschel erklang einige Zuschauer stießen ihren Nebenmann an. Rosie hatte Angst, dass ihr Partner ein paar Besucher mit dieser ruppigen Ansprache vergrault hätte.

Der Gedankenleser zählte von drei herunter, die Anspannung elektrisierte die Raumluft förmlich, doch meldete sich immer noch kein Freiwilliger. Schließlich faltete Gryphus oberlehrerhaft seine Hände hinterm Rücken, lächelte und richtete seinen Blick auf einen der Ecktische. »Alex, magst du bitte nach vorn kommen?«

Der GedankenleserWo Geschichten leben. Entdecke jetzt