1. Kapitel

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,,So. Schluss für heute", sagte mein Kampftrainer zu uns und sammelte die Übungswurfmesser ein. Heute haben wir, wie gestern, geübt mit Messern zu werfen. Ich fand das eigentlich langweilig, weil ich das schon konnte. Mein Cousin hatte es mir beigebracht als ich dreizehn war. Ich konnte es besser als er, weswegen ich schon immer ein klein wenig stolz war. Jetzt wo ich siebzehn war, konnte ich viel mehr als Messerwerfen, weil ich immer regelmäßig zum Kampftraining ging. Wir trainierten alles was mit Kämpfen und Wehren zu tun hatte und ich ging gerne hin, weil ich den Stress von der Schule und dem Alltag abbauen konnte. In der Klasse galt ich schon als halber Junge, was mir aber nichts ausmachte. Ich hing in den Pausen sowieso immer mit ihnen ab. Die Mädchen waren mir zu "mädchenhaft" mit ihren Klamotten, ihren Frisuren und der Schminke. Ich trug meistens dunkle Kleidung, das gut zu meinen wilden, pechschwarzen Haaren passte. Ich trug sie meistens offen, aber zum Training hatte ich sie immer zusammengebunden.
,,Lys, kommst du mal bitte?", sprach mich mein Trainer an. Ich hieß eigentlich Alyssa, aber wollte nur Lys genannt werden. Die acht anderen Mitglieder des Kampfclubs waren schon in der Umkleide. ,,Klar", antwortete ich. Ich ging auf ihn zu und blieb einen Meter vor ihm stehen. ,,Was ist denn?", fragte ich. ,,Ach nichts. Ich wollte dir einfach nur sagen, dass du dich sehr gut im Training schlägst. So gut habe ich noch keinen kämpfen sehen. Du hast dein Talent gefunden." Er boxte mir freundschaftlich gegen die Schulter. Ich grinste und boxte zurück. Wir verstanden uns ganz gut, obwohl er drei Jahre älter war als ich. ,,Dean, kannst du mir einen Gefallen tun?", fragte ich ihn. Er zog eine Augenbraue hoch und sagte: ,,Klar." ,,Okay, dann zeig beim Training bitte nicht, dass du mich gut im Kämpfen findest." Seine andere Augenbraue schnellte auch nach oben. ,,Wie du willst. Dann bis nächste Woche, Lys." Ich lächelte ihn an, drehte mich um, schnappte mir meine Sporttasche und ging in die Umkleide.

In der Umkleide wartete meine beste Freundin Skye Carter auf mich. Sie war schon umgezogen und saß mit ihrer Sporttasche und ihrem Wintermantel auf der Bank. Als sie die Tür hörte, die ich gerade öffnete, drehte sie sich zu mir um. ,,Hey Lys. Wo warst du so lange?" Ich überlegte, was ich antworten sollte. Ich wollte sie ja auch nicht eifersüchtig machen. Aber ich glaubte, sie anzulügen wäre noch schlimmer. Immerhin ist sie meine beste Freundin. ,,Dean hat mir nur gesagt, dass ich mich im Training gut schlage. Nichts besonderes." Sie lächelte. ,,Kein Wunder. Du wirst immer besser. So langsam glaube ich, du bist sogar besser als er." Ich lachte. ,,Glaubst du wirklich?", fragte ich sie, während ich mich umzog. ,,Ja. Du kannst das richtig gut." ,,Danke", sagte ich zu ihr und grinste. ,,Du bist aber auch nicht schlecht im Kämpfen, Skye." ,,Danke. Aber mal was ganz anderes: Hast du heute Abend noch was vor? Weil sonst könnten wir vielleicht noch einen kleinen Weihnachtsbummel durch die Stadt machen. Ich bräuchte noch ein paar Geschenke." ,,Nein, gegen einen kleinen Bummel hätte ich nichts auszusetzen", sagte ich und band mir meine Schuhe zu. Ich fragte Skye: ,,Holt deine Mutter dich auch mit dem Auto ab, oder gehst du zu Fuß?" ,,Ich gehe zu Fuß nach Hause. Das Auto ist in der Werkstatt, weil der Tachometer nicht mehr funktioniert. Doofe Sache, wenn man nicht weiß, wie schnell man fährt. Meine Mutter hat sowieso vor ein neues Auto zu kaufen. Das Alte gibt vermutlich bald ganz den Geist auf. Fragt sich, woher wir das Geld bekommen sollen." Ich sah sie mitleidig an. Ich wusste, dass ihre Mutter kaum Geld verdiente und Skye selber einen blöden Job als Pizzalieferantin hatte. Manchmal gab unsere Familie ihrer etwas Geld, weil wir ein bisschen reicher und mit ihnen schon seit Jahren befreundet waren. Ich kannte Skye seit dem Kindergarten. Wir hatten uns immer gut verstanden und waren immer füreinander da, wenn es dem anderen schlecht ging. Ich war froh eine so gute Freundin zu haben. Sie war das einzige Mädchen, das ich wirklich mochte. Die anderen mochten mich nicht und ich mochte sie nicht, wie gesagt wegen des Charakters.
,,Wir können euch Geld geben. Dann könnt ihr euch ein neues Auto kaufen und vielleicht reicht es auch noch für etwas Anderes", versuchte ich sie zu ermutigen. Sie sah mich an. Für einen Moment glaubte ich, sie würde das Angebot annehmen, aber dann sagte sie: ,,Nein Lys. So verlockend das auch klingt, wir können nicht immer Geld von euch nehmen. Meine Mom und ich müssen auch versuchen alleine zurecht zu kommen. Stell dir vor, ich würde wegziehen. Was würde ich dann ohne dich machen? Verhungern, höchstwahrscheinlich. Ich muss lernen auch ohne deine Hilfe zu überleben, aber trotzdem danke." Ihre Lippen zitterten, während sie das sagte und dann drehte sie sich von mir weg. Sie meinte, dass ich mir vorstellen sollte, wie es wäre wenn sie wegzog. Ich glaubte, sie hatte es wortwörtlich gemeint. Sie zog also weg. Für mich brach eine Welt zusammen. Sie war meine einzige beste Freundin. Sonst hatte ich nur Jungs als Kumpel. Sie durfte nicht wegziehen. Vor allem: Warum? Sie wohnte noch bei ihrer Mutter, aber was war passiert, dass sie wegzogen? Ich musste sie fragen. ,,Hey, Skye", fing ich mit sanfter Stimme an. ,,Was ist los?" Sie schluchzte kurz und fing dann an zu weinen. Ich stand auf, ging zu ihr und umarmte sie. Sie zitterte in meinen Armen, sie schluchzte und schluchzte. Ich wollte sie nicht wieder loslassen. Irgendetwas war bei ihr zu Hause passiert. Das wusste ich. Ich versuchte es noch einmal: ,,Wenn du darüber reden willst, dann kannst du es gerne tun." Sie löste sich aus der Umarmung und holte einmal tief Luft. Ich setzte mich ihr gegenüber. Als sie sich beruhigt hatte, fing sie an: ,,Gestern kam ich ganz normal von der Schule nach Hause. Ich hab meine Tasche in den Flur vor die Treppe gestellt und bin dann in die Küche gegangen, um mir mein Mittagessen warm zu machen. Auf dem Tisch lag ein Zettel. Ich hatte mir nichts weiter dabei gedacht. Meine Mutter schreibt mir ständig Zettel, wo dann meistens drauf steht, ich soll Wäsche aufhängen oder mit dem Hund gehen oder so. Ich mache das jetzt mit siebzehn ja eigentlich schon selbstständig, aber manchmal schreibt sie mir trotzdem eine Nachricht. Ich hab mir also das Essen warm gemacht, mich an den Tisch gesetzt und gegessen. Nebenbei hab ich mir den Zettel durchgelesen. Er war wie die anderen auch, aber etwas hat mich stutzig gemacht." Sie hielt inne und schniefte. Ich reichte ihr ein Taschentuch und sie putzte sich die Nase. ,,Was hat dich stutzig gemacht, Skye?" ,,Er war mit einer ganz anderen Handschrift geschrieben worden. Meine Mutter hat eine ganz ordentliche Handschrift. Die auf dem Zettel war total krakelig. Aber die Schrift kannte ich." Sie fing wieder an zu weinen. ,,Es war… Es war die Schrift von meinem Vater." Das traf mich wie ein Schock. Ihr Vater hatte sie und ihre Mutter verlassen als Skye noch acht Jahre alt war. Er hatte sie geschlagen und angeschrieen. Er war kein sympathischer Mensch. Er war einmal sogar in der Psychiatrie, weil er Aggressionen hatte. Ich hab ihn nicht besonders gut gekannt, weil Skye immer bei mir war, wenn wir uns verabredet haben. Bei ihr zu Hause hatte sie es nicht ausgehalten. Sie hat mir alles von ihm erzählt und das was ich gehört hab, war sehr schlimm. Er hat sie verlassen, weil er eine andere Frau gefunden hat - Mein Beileid für sie - und nun soll er zurück sein? Kann ich mir nicht vorstellen. ,,Und wo war deine Mutter?", fragte ich sie? ,,Das kommt ja noch. Auf dem Zettel stand: ‘Skye, mein Schatz. Ich habe euch nun endlich gefunden. Es tut gut wieder die vertraute Umgebung um sich herum zu haben. Als ich ins Haus gekommen bin, war deine Mutter nicht da. Wenn sie wieder da ist, dann sag ihr bitte, sie soll um 17:30 Uhr im Restaurant an der Ecke sein. Ich warte dort auf sie. Hab euch lieb, Andrew.’ Es war abscheulich. So, als wäre alles gut. So, als hätten wir uns nie gestritten. Ich hab den Zettel zerrissen und in den Müll geschmissen. Als meine Mutter dann nach Hause kam und ich ihr das erzählt hab, hat sie einen Schock erlitten und ist in Ohnmacht gefallen. Als sie wieder aufgewacht ist, meinte sie, wir müssen weg. Sie hatte Angst, Lys. Große Angst. Das ist der Grund warum wir nach Amerika ziehen." Sie sah mich an. ,,Bitte sei mir nicht böse, Lys. Bitte. Du bist meine beste Freundin und ich möchte mit dir in Kontakt bleiben. Ich würde am liebsten hier bleiben, aber ich kann nicht. Andrew bringt uns um, wenn wir in Deutschland bleiben. Hier kann er uns zu leicht finden." Ich musste das erst einmal verdauen. Amerika. So weit? Das konnte nicht wahr sein. War es aber. Mir rollte langsam eine Träne die Wange hinunter. Dann schlang ich erneut meine Arme um sie und drückte sie ganz fest. ,,Klar. Wir bleiben in Kontakt. Hundertprozentig. Ich werde dich vermissen. Tue ich jetzt schon." Ich musste ein Schluchzen unterdrücken. Wir blieben ein paar Minuten in der Umarmung. Dann lösten wir uns voneinander. ,,Danke für alles, Lys", flüsterte Skye und lächelte mich dankbar an. ,,Ich werde dich auch vermissen. Aber wir können noch ein bisschen zusammen unternehmen. Wie steht es mit dem Weihnachtsbummel?" ,,Ja, gerne", antwortete ich und stand auf. Ich nahm mir meine Sporttasche und wir gingen zusammen nach draußen.

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