5. Kapitel

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Wir gingen auf Liam zu, der gerade einen merkwürdig aussehenden Stoff zuschnitt. Als er uns sah, unterbrach er seine Arbeit und stand auf. ,,Ihr seid gerade rechtzeitig da. Ich bin fertig mit deiner Kleidung." ,,Was schneidest du denn da zurecht?", fragte Jay. ,,Lucifer hat schon wieder sein schützendes Oberteil kaputt gemacht. Ich weiß auch nicht, wie er das jedes Mal macht", meinte Liam ratlos. ,,Lucifer ist der Pechvogel unter den Shadrior. Ihm geht fast alles kaputt", erklärte Jay mir grinsend. Liam hob die Hand und fing wieder an zu sprechen: ,,Genug gequatscht. Lys, du möchtest sicher deine Ausrüstung sehen." Ich nickte voller Vorfreude und folgte Liam in den hinteren Teil des Zeltes.
Er griff in eine Schublade aus glänzendem Holz und zog ein dunkles Bündel hervor. Ich nahm es entgegen und faltete es auseinander. Es war ein Oberteil und eine Hose, die mir schätzungsweise bis zur Taille ging. Die Kleidung bestand aus einem merkwürdigem Material. Robust fühlte es sich an, wie eine Mischung aus Leder und Stoff. Es erinnerte mich an den Anzug den auch Spiderman in den Filmen trug. Die Farbe war zum größten Teil schwarz, bis auf die Stelle, wo meine Schlüsselbeine drunter liegen würden. Die Stelle war weinrot. Die Hose war ganz schwarz. Liam ging noch einmal zur Schublade und holte die Stiefel heraus. ,,Die hatte ich vergessen", sagte er und gab sie mir. Ich fragte: ,,Kann ich mich irgendwo umziehen?" Jay nickte und ging mit mir noch weiter nach hinten ins Zelt. Dort war ein blutroter Vorhang. Jay ging wieder und ich zog den Vorhang zurück. Da hinter dem Vorhang das Zelt endete, war nicht viel Platz, aber es reichte zum Umziehen.
Als ich die neue Kleidung angelegt hatte, betrachtete ich mich in dem Spiegel, der an der Zeltwand lehnte. Die Hose schmiegte sich eng an meine Beine und die Stiefel gingen mir bis zur Wade. Was mich leicht erschreckt hat, war, dass mein Oberteil, was genauso eng anlag wie die Hose, mit der Hose verschmolzen ist. Das war dann ungefähr so wie ein Anzug. Ich zog den Vorhang wieder auf und ging zu Liam und Jay zurück. Sie sahen mich an, bis Liam sagte: ,,Ich hab eine gute Wahl getroffen. Das steht dir." Ich lächelte und bedankte mich. ,,Liam, hast du auch Waffen für Lys?", fragte Jay. Liam antwortete: ,,Klar. Kommt mit." Er ging voraus zu den Vitrinen, die mir schon aufgefallen waren, als ich das erste Mal hier war. Liam murmelte ein paar Wörter und das Umfeld veränderte sich. Jetzt waren wir nicht mehr in dem Zelt vor den Vitrinen mit den schwebenden Waffen, sondern in einem Raum mit sehr vielen Regalen, die bis an die Decke mit Waffen gefüllt waren. Mir blieb vor Staunen der Mund offen stehen. ,,Das ist ja unglaublich", flüsterte ich ehrfürchtig. ,,Willkommen im Raum des Todes", sagte Liam und streckte die Arme zu beiden Seiten aus. Raum des Todes. Der Name passt bei so vielen Waffen auf jeden Fall, dachte ich mir. ,,Wie soll ich hier das Richtige finden?", fragte ich zweifelnd. ,,Du vergisst die Magie. Sie wird dich leiten. So findest du die geeigneten Waffen für dich", meinte Jay. ,,Konzentriere dich einfach. Der Rest kommt von alleine." Ich schloss meine Augen und versuchte mich zu konzentrieren. Es ging nicht, weil ich viel zu nervös war. Ich versuchte es noch einmal. Ich konzentrierte mich auf die Stille um mich herum. Dann versuchte ich die Kraft heraufzubeschwören, die ich auch beim Zerbrechen des Glases und beim Erheben der Wasserkugel gespürt hatte. Tief in meinem Inneren spürte ich sie. Ich tastete mich an diese Macht heran und zog sie in den Vordergrund. Nun spürte ich sie mit voller Energie in mir brodeln. Ich stellte mir vor wie ein Schwert, Pfeile und ein Bogen auf mich zugeflogen kamen. Die genaue Form und Farbe hatte ich nicht im Sinn. Die Macht in mir wuchs und ich spürte, wie etwas auf mich zugeflogen kam. Instinktiv duckte ich mich. Noch während ich das tat, öffnete ich meine Augen und sah, dass über mir die Waffen hinweg flogen, die ich mir vorgestellt hatte. Ich rief die Energie in mir zurück und die Waffen fielen zu Boden. Ich keuchte vor Anstrengung und musste erst einmal den hervor getriebenen Schweiß aus meinen Augen blinzeln. Erst jetzt konnte ich das Resultat meiner Bemühungen klar erkennen: Auf dem Boden lagen ein Köcher aus Wildleder mit ungefähr zwei Dutzend Pfeilen aus Ebenholz, die mit Rabenfedern am Ende bestückt waren. Dazu passend lag daneben ein geschwungener Bogen, ebenfalls aus Ebenholz, mit einer Sehne gespannt, die sehr elastisch aussah. Das alleine war schon sehr kostbar, aber daneben lag ein Schwert, das alles übertraf, was ich je in meinem Leben gesehen hatte. Es steckte in einer Schwertscheide, welche dunkelblau war und mit Edelsteinen und Juwelen verziert war. Zwischen den Edelsteinen waren Gravuren, die nicht von Menschenhand stammen konnten. Sie waren so fein erarbeitet, dass man sie im ersten Augenblick für kleine Kratzer halten konnte. Aber wenn man genauer hinsah, erbot sich einem ein atemberaubendes Schaubild von Symbolen, die ich nicht entziffern konnte. Mit zittrigen Händen griff ich nach dem Schwert und zog es aus der Scheide. Was ich jetzt sah, brannte sich für immer in mein Gehirn fest: Eine wunderschöne Klinge in einem leuchtendem, strahlendem Saphirblau, die ebenfalls mit diesen schönen Gravuren bearbeitet war. Der Griff war, wie die Schwertscheide, mit kostbaren Steinen besetzt, die zum Beispiel ich mir nicht leisten konnte. ,,Ich…Das kann nicht sein. Das können nicht meine Waffen sein", brachte ich schließlich hervor und legte das Schwert wieder behutsam auf den Boden. Die anderen beiden sahen auch ziemlich erstaunt aus, fassten sich aber wieder, als ich anfing zu sprechen. ,,Das geht doch gar nicht. Wie können so wertvolle Waffen mir gehören?" Ich flippte fast aus, weil ich es immer noch nicht glauben konnte. Jetzt redete Jay: ,,Diese Waffen sind sogar noch wertvoller als du denkst. Sie wurden für den ersten Shadrior geschmiedet, der sie bis zu seinem Tod ehrenvoll getragen hat. Salvador hat ihn umgebracht." ,,Ich werde seine Waffen mit Ehre tragen, bis ich neue bekomme", versprach ich. ,,Das wissen wir sehr zu schätzen", antwortete Liam. Ich hob das Schwert auf, band es mir an die Hüfte und schnallte den Köcher und den Bogen auf meinen Rücken. Es fühlte sich etwas ungewohnt an. ,,Okay. Dann wollen wir mal mit deinem Training beginnen", sagte Jay. Liam murmelte erneut ein paar Wörter und wir standen wieder in dem Zelt. Ich warf einen Blick auf meine Armbanduhr und ich sah, dass es 22 Uhr war. ,,Tut mir echt leid, aber ich muss noch Hausaufgaben machen und meine Eltern sind in einer Stunde wieder da. Außerdem weiß ich nicht wann mein Bruder zurückkommt. Ich würde das Training dann lieber auf morgen verschieben, wenn es euch nichts ausmacht." Ich warf Jay und Liam einen entschuldigenden Blick zu. ,,Klar. Das können wir verstehen. Ich hol dich dann morgen ab", meinte Jay. ,,Kommst du mit dem Teleportieren alleine klar?" Ich nickte mit dem Kopf, holte den Stein heraus und sagte: ,,Ymira." Es wurde wieder dunkel um mich herum und dann stand ich in meinem Zimmer. Es sah nicht so aus, als wäre jemand in meiner Abwesenheit hier gewesen. Ich ging nach unten um mir ein Wasser zu holen. In der Küche saß jemand auf einem der Stühle. ,,Riley", rief ich. Riley fuhr herum und als er mich sah, sprang er von seinem Stuhl auf, kam auf mich zu und schloss mich fest in seine kräftigen Arme. ,,Lys, wo warst du? Als ich nach Hause kam, war keiner da und ich wollte in deinem Zimmer nachsehen, ob du schon schläfst, aber ich konnte dich nicht finden. Und dann hab ich den Stuhl gesehen, mit dem Seil und die Brechstange auf dem Boden. Da hab ich mir das Schlimmste ausgemalt. Ich hab mir solche Sorgen um dich gemacht. Verdammt, Lys. Wo warst du?" Er ließ mich los und sah mich an. Ich überlegte, ob ich es ihm sagen sollte. ,,Komm mit in mein Zimmer. Ich erkläre dir die ganze Sache. Zumindest versuche ich es. Es ist nämlich ziemlich schwer zu glauben." Riley sah mich verständnislos an, folgte mir aber dennoch die Treppe herauf in mein Zimmer. Als er die Tür schloss und wir uns auf den Boden setzen, legte ich los. Ich erzählte ihm alles. Angefangen mit dem Weihnachtsmarkt und dem Stein. Ich ließ keine Einzelheiten aus. Als ich fertig war, sah mein Bruder mich verblüfft an und meinte: ,,Das klingt so verrückt, dass du dir das nicht hättest ausdenken können, aber ich brauche trotzdem einen Beweis. Sonst kann ich dir einfach nicht glauben." Ich überlegte und sagte zu ihm: ,,Hol mir bitte ein Glas Wasser." Er guckte zwar etwas verwirrt, aber er tat mir den Gefallen. Er verschwand im Bad und kam mit einem Glas Wasser zurück. Ich nahm es und stellte es zwischen uns auf den Boden. Dann konzentrierte ich mich und ließ dann wieder die Wasserkugel durch mein Zimmer schweben, wie ich es zuvor auch in Epirion getan hatte. Als das Wasser wieder im Glas gelandet war, sah Riley mich mit offenem Mund an. ,,Dann ist es also wahr. Aber was passiert jetzt? Die Schule und so. Wie kannst du jetzt noch ein normales Leben führen?" Darüber hatte ich noch gar nicht nachgedacht. Ich hatte bald meinen Abschluss an der Schule und konnte mich jetzt eigentlich nicht von anderen Dingen ablenken lassen. ,,Ich weiß es nicht. Irgendwie muss ich es wohl hinbekommen." In Rileys Blick spielte Besorgnis mit. ,,Riley. Mach dir um mich keine Sorgen. Ich bekomm das schon hin", sagte ich zu ihm, war mir aber selbst nicht so sicher. ,,Also gut. Ich glaub an dich. Kann ich dir bei den Hausaufgaben helfen?", fragte er mich, mit einem Blick auf den Stapel Schulbücher hinter mir. ,,Ja, gerne. Ich muss noch Physik, Mathe und Französisch machen." Ich wurde immer zweifelhafter, ob ich das mit Schule und Epirion wirklich schaffen würde.

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