19. Kapitel

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Ich schaffte es tatsächlich um halb sechs Uhr morgens aufzuwachen. Ich stieg immer noch schlaftrunken aus dem Bett und verfluchte innerlich meinen durcheinander gebrachten Schlafrythmus. Dann nahm ich eine Dusche und schlüpfte schließlich in meinen Kampfanzug. Als es um Punkt sechs Uhr an meine Tür klopfte, hatte ich auch meine Zähne geputzt, meine Haare geordnet und zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. Jay kam in das Zimmer und schien sichtlich überrascht, als er mich erblickte. ,,Was ist?", fragte ich. ,,Ich hatte nicht erwartet, dass du von alleine aufstehst." Ich grinste ihn an. ,,Ich hatte um ehrlich zu sein auch nicht damit gerechnet." Jay schmunzelte und fragte dann: ,,Bist du so weit?" Ich nickte und nahm den Schlüssel von dem Tisch. ,,Komm. Roy wartet unten schon", sagte er und verließ das Zimmer. Ich folgte ihm und schloss die Tür ab.
Als der Fahrstuhl in der Empfangshalle hielt, stiegen wir aus und sahen uns nach Roy um. Ich entdeckte in auf einem Sessel, wie er eine Zeitschrift las. Jay und ich gingen auf ihn zu, er bemerkte uns und legte das Heft weg. Dann stand er auf und fragte: ,,Kann es losgehen?" Jay nickte. ,,Lass uns woanders hingehen. Es muss nicht unbedingt jeder mitbekommen, dass wir uns teleportieren." Wir gingen in einen verlassenen Flur, der nur schwach beleuchtet war und Jay sah sich noch einmal prüfend um, ob wirklich keiner uns beobachtete, bevor er Roys und meine Hand nahm.
Wir landeten in einer vereisten Umgebung. Die umstehenden Nadelbäume waren von Frost überzogen und glitzerten in der Wintersonne. Irgendwo in der Ferne krächzte eine Krähe und kurz darauf hörte man Flügelschlagen. Danach war es wieder beunruhigend still. Ich schlang fröstelnd die Arme um mich. ,,Wir sollten uns beeilen, die Seelenkrieger zu finden", durchbrach Roy die Schweigsamkeit. Ich konnte ihm da nur zustimmen. Also gingen wir los; in eine unbestimmte Richtung. Wir hatten keinen Anhaltspunkt, an welcher Stelle wir suchen sollten. Es war im Prinzip eine Suche, wo wir nur mit Glück erfolgreich sein konnten. Ich hoffte, dass wir sie schnell finden würden, da wir dann mehr Zeit für die Ausführung unseres Plans hatten und die Menschen der Erde eine bessere Überlebenschance.
Wir erklommen gerade einen kleinen verschneiten Hügel, als plötzlich die Krähe von vorhin über unseren Köpfen kreiste und wütende Laute ausstieß. Ich hatte natürlich keine Ahnung davon, wie Krähen klingen, wenn sie wütend sind, aber das klang eindeutig danach. Sie drehte noch ein paar Runden, bis sie schließlich davonflog; so, als wäre ihr urplötzlich befohlen worden, dass sie von uns ablassen soll. Aber das wäre vollkommen abstrus. ,,Was war das denn?", fragte Jay verwundert. Ich zuckte ebenso verwirrt wie er mit den Schultern. ,,Klang sie für euch auch so verärgert?", fragte Roy und blickte nachdenklich der Krähe hinterher. Jay und ich nickten. Schließlich wendeten wir uns wieder unserem ungewissen Weg zu und führten die Suche fort. Doch dieser kleine Zwischenfall wollte mir irgendwie nicht aus dem Kopf. Er war so klein und unbedeutend, aber trotzdem ließ er mir keine Ruhe. Nur leider wusste ich nicht was mich daran so sehr störte. Da war nur ein kleines, beunruhigendes Gefühl in mir. Ich verdrängte den Gedanken an die merkwürdige Krähe und widmete mich der Umgebung. Sie sah so unberührt und wunderschön aus; wie eine märchenhafte Schneelandschaft. Der Schnee, der Puderzucker ähnelte, glitzerte und glänzte wie Millionen von winzigen Diamanten. Die Sonne schien am klaren Himmel und war warm, aber zugleich auch kalt. Die angenehme Stille versetzte mich in einen schläfrigen Zustand. Auf einmal verspürte ich den Drang mich in den watteweichen Schnee zu legen, die Augen zu schließen und sie nie wieder zu öffnen. Mich einfach nur ohne jegliche Sorgen und Bedenken der Zeit hingeben. Ich wäre befreit und müsste mich nicht mehr um das Überleben anderer kümmern. Es war so verlockend.
Doch plötzlich drang eine Stimme dumpf in mein Bewusstsein. ,,Lys? Lys!" Ich spürte wie ich geschüttelt wurde und der Gedanke an den endlosen Schlaf verblasste. Ich kehrte zurück in die Welt der Tatsachen und sah als erstes Jay vor mir, der mich immer noch durchschüttelte. ,,Verdammt, Jay. Lass das", rief ich. Als er bemerkte, dass ich wieder ich selbst war, ließ er mich los. ,,Was hattest du eben Lys?" Ich sah ihn fragend an. ,,Was sollte ich gehabt haben?" Jay fuhr sich nervös durch die Haare. ,,Nun ja. Ich will es mal so ausdrücken: Du bist erst stocksteif stehen geblieben, hast verträumt durch die Gegend gestarrt und dann bist du rückwärts in den Schnee gefallen." Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. ,,Bitte?!" Ich wollte sicher gehen, dass ich mich verhört hatte. Nur leider war dies nicht der Fall. ,,Ja. Roy und ich haben dich dann hochgezogen und geschüttelt, bis du wieder...ganz bei Sinnen warst, wenn ich das so nennen kann." ,,Ach du Schande." Mehr viel mir dazu nicht ein. Jay nickte zustimmend. ,,Ich hab keine Ahnung was mit mir los war. Ich hatte auf einmal daran gedacht, dass ich mich in den Schnee legen, die Augen schließen und nie wieder öffnen könnte. Was ich mir dabei gedacht hab, weiß ich auch nicht." Jay runzelte nachdenklich und besorgt die Augenbrauen. ,,Anscheinend ist hier irgendeine Art von Schutzzauber, die Eindringlinge verrückt werden lässt. Offenbar trifft dich der Einfluss des Zaubers stärker als Roy und mich. Ich bin mir nun noch sicherer, dass die Seelenkrieger hier sind. Wir müssen wirklich einen Zahn zulegen, bevor jemand von uns noch wirklich verrückt wird." Mir schauerte es bei dem Gedanken, dass ich vermutlich erfroren wäre, wenn ich alleine gewesen wäre. Ich beeilte mich den anderen beiden hinterherzulaufen, die schon ein ganzes Stück vorgegangen waren. Während wir an einem zugefrorenen See entlanggingen, bemerkte ich, dass Jay mit jedem Schritt nervöser wurde und seinen Blick suchend über die Gegend schweifen ließ. Auch Roy erging es nicht anders. Vorsichtig gingen wir weiter und achteten auf jedes kleine Geräusch; aber es waren jedes Mal nur die knarrenden Bäume, die sich im sanften Wind hin und her wiegten. Aus einem Instinkt heraus zog ich mein Schwert, welches nun sichtbar wurde, da ich es mir wünschte. Jay sah mich an und zog auch sein Schwert. Roy tat es uns gleich. Wir gingen fast schleichend weiter; die Schwerter schützend vor uns haltend. Irgendwie beschlich mich ein ungutes Gefühl, nur ich konnte es nicht zuordnen. ,,Spürt ihr das auch?", wandte ich mich raunend an Jay und Roy. Ohne den Blick von der Gegend abzuwenden antwortete Jay: ,,Ja, Lys. Wir werden beobachtet. Nur leider habe ich keine Ahnung von wo aus." Langsam stellten Roy, Jay und ich uns Rücken an Rücken. Ich versuchte ruhig zu bleiben und blickte wachsam hinüber zu den Bäumen. Plötzlich fiel etwas Schnee von einem der Äste. Im Moment war es windstill, weswegen es nicht durch einen Windstoß ausgelöst werden konnte. Jay, wendete ich mich in Gedanken an ihn. Falls wir beobachtet wurden, wollte ich nicht, dass sie wussten, dass ich es gesehen hatte. Irgendwer ist bei den Bäumen. Eben ist Schnee hinuntergefallen. Wir drehten uns so im Kreis, dass es zwar unwillkürlich aussah, aber Jay konnte nun mit seinen Adleraugen hinüber zu den Bäumen sehen. Was ist dort?, fragte ich ihn unruhig. Es dauerte einen Moment, doch dann zischte er: ,,Runter!" Wir duckten uns; gerade rechtzeitig, bevor uns ein Pfeil durchbohrt hätte. Schnell steckte ich mein Schwert zurück, zog stattdessen den Bogen und legte einen Pfeil an. ,,Warte noch", hielt Jay mich auf. ,,Wir wissen weder wer sie sind, noch was sie wollen." Also warteten wir angespannt weiter ab, ob sich unsere Gegner noch einmal zeigen würden. Es vergingen weitere Minuten, die sich wie endlose, quälende Stunden anfühlten, aber nichts tat sich. Wir dachten schon, dass sie sich zurückgezogen hatten, doch plötzlich hörte ich ein leises Geräusch. Es war wie ein Fiepen. Als erstes dachte ich, dass es aus dem Wald kommt, aber als ich mir die Ohren zuhielt, bemerkte ich, dass es in meinem Kopf war. Das Geräusch wurde immer lauter und unangenehmer. Es bohrte sich in meinem Kopf fest und arbeitete sich vor wie ein brennender Dolch. Die Schmerzen, die damit verbunden waren, waren unbeschreiblich. Ich merkte gar nicht ob ich schrie oder nicht. Ich war zu sehr konzentriert darauf, dass diese Schmerzen aus meinem Kopf verschwanden. Doch das taten sie nicht. Es wurde immer unerträglicher. Jetzt spürte ich, dass ich am Boden lag und mich vor Qualen wand und krümmte. Ich bekam gar nicht mit, dass Jay und Roy nichts von all den höllischen Schmerzen mitbekamen, welche mich folterten. Sie waren nur panisch und schrieen die ganze Zeit etwas, was ich nicht verstand. Ich sah helle Pünktchen vor meinen Augen und langsam wurde es finster um mich herum. Das Fiepen hörte dennoch nicht auf und hatte sich mittlerweile in ein grelles Kreischen verwandelt. Das Letzte, was ich mitbekam, war, dass jemand meinen Namen schrie. Dann fiel ich in bodenlose Dunkelheit.

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