Eine müde Klientin kommt selten ins Taxi
"Wie lange leben sie schon in England?", fragte Sherlock.
Debbies Lächeln fror etwas ein und sie runzelte leicht die Stirn. "Was meinen sie damit?"
"Sie haben einen außerordentlich guten britischen Akzent, Miss Johnson, aber die deutsche Ecke habe ich trotzdem bemerkt. Aber keine Sorge, sie ist so winzig, so etwas fällt nur Spezialisten auf."
Debbies Lächeln war nun ziemlich verzerrt, als sie den Kopf etwas zur Seite neigte und Sherlock anstarrte. "Ich bin tatsächlich Deutsche, und ich bin im September 2007 hierher gezogen. Ich habe die Phoenix Street geerbt, und irgendwer musste sich ja schließlich darum kümmern. Aber wieso versuchen sie, mich zu beruhigen, was meinen Akzent angeht?"
"Nun ja, sie scheinen sich ja alle Mühe zu geben, eine richtige Engländerin zu sein."
"Ja, das stimmt, und das liegt mehr daran, dass ich eine Frau bin und sowieso schon nicht richtig ernst genommen werde. Ich musste um die Phoenix Street kämpfen, wissen sie? Und das alles nur, weil ich deutsch bin. Ich habe keine Lust, mir die Rechte an diesem Haus ein weiteres mal streitig machen zu lassen. Die Phoenix Street 6 gehört mir. Punkt."
Sherlock schwieg eine Weile und musterte Debbie. Sie schien die Wahrheit zu sagen.
"Eine Frage habe ich noch, Miss Johnson. Wo waren sie April 2006?"
Debbie runzelte die Stirn. „Ich war in den USA bei einer Freundin. Wieso?"
John und Sherlock tauschten einen Blick aus. „Okay, also, letzte Frage. Wo waren sie gestern Nachmittag?"
Debbie druckste etwas auf ihrem Stuhl herum. „Bei meinem Verlag", murmelte sie und lächelte schüchtern. „Ich war in der Bar nicht aufrichtig zu ihnen, wegen Blade. Ich schreibe Bücher, müssen sie wissen."
„Und was für Bücher schreiben sie?", fragte John interessiert.
„Alles mögliche. Bevorzugt Science-Fiktion, aber ich habe auch einen Liebesroman rausgebracht. Er heißt ‚Salzige Regentropfen'."
„Noch nie davon gehört", erwiderte Sherlock.
„Ja, es ist nicht sonderlich bekannt. Es verkauft sich dennoch nicht schlecht, es reicht für mich und die Phoenix Street aus. Und reich werden wollte ich sowieso nie. Außerdem verwende ich ein Pseudonym."
„Wie heißen sie denn als Autorin?", fragte Sherlock mit plötzlichem Interesse.
„Lilian Baker", antwortete Debbie. "Synonyme sind als Autorin unverzichtbar."
Sherlock nickte und wandte sich erneut John zu, welcher sich Notizen auf einem Block machte.
"Also, Miss Johnson, was denken sie hatten die Polizisten in ihrer Wohnung zu suchen?"
"Keine Ahnung. Eine Razzia? Ich weiß es selbst nicht. Vielleicht dachten sie, ich würde Drogen schmuggeln, da ich ja in einem Club arbeite. Blade hatte mir erzählt, dass auch bei ihm mal eine Horde Cops vorbeigeschaut hat."
"John? Wir fragen morgen Lestrade zu diesem Thema aus. Also, Miss Johnson, nur noch ein paar Fragen..."
Und so gingen diese "paar Fragen" etwa noch eine volle Stunde lang. Erst saß Debbie noch wach und aufrecht auf dem Stuhl, doch mit der Zeit sank sie immer weiter in sich zusammen und ihre Augen wurden glasig. John unterbrach Sherlock mehrmals, doch dieser redete einfach unaufhaltsam weiter.
"Also, Miss Johnson..."
"Sherlock!"
"...was wissen sie denn so alles über..."
"Sherlock!"
"Nicht jetzt, John! Also, was wissen sie alles über Blade?"
Sherlock wartete auf eine Antwort, doch stattdessen vernahm er ein leises Schnarchen. Debbie Johnson hatte ihren Kopf auf die Hand gestützt und war mit zerknautschtem Gesicht und überschlagenen Beinen auf dem Klientenstuhl eingeschlafen. Ihr Hut rutschte ihr ganz langsam vom Kopf und fiel schließlich mit einem sanften Geräusch auf den Wohnzimmerteppich. Sherlock sah john empört an, doch dieser zuckte bloß die Schultern. "Ich wollte es ihnen die ganze Zeit über sagen. Die schläft seit etwa einer Viertelstunde und sie bemerken rein garnichts."
Sherlocks Blick wanderte an Debbie herab, dann seufzte er laut. „Morgen früh befragen wir sie weiter. Es macht keinen Sinn, sie jetzt noch aufzuwecken", sagte er, stand auf und ging in die Küche.
John runzelte verwirrt die Stirn. „Aber Sherlock, sie könnte doch sicher noch..."
„...ein Taxi nehmen? Nein. Sehen sie sich doch mal ihre Unterschenkel an! Der Muskel ist vor lauter Erschöpfung völlig entspannt. Sie könnte nicht einmal aufstehen!"
John saß da und musterte Debbies Unterschenkel, erkannte jedoch überhaupt nichts und stützte seinen Kopf auf die Hand, bevor er schließlich ebenfalls aufstand, eine Decke vom Sofa nahm und damit zu Debbie ging.
„Was machen sie da?", fragte Sherlock.
„Ich decke sie zu", erwiderte John, breitete die Wolldecke aus und legte sie so um den Stuhl, dass nur noch Debbies Kopf, Arme und Füße zu sehen waren. Dann drehte er sich um und verließ das Wohnzimmer in Richtung Bad.
Ein paar Minuten lang stand Sherlock wie versteinert im Türrahmen und sah zu, wie sich die Decke langsam hob und senkte, Debbies Haare von ihrem Atem immer wieder hochgepustet wurden und ihr Kopf ganz, ganz langsam von ihrer Hand rutschte. Plötzlich raste Sherlock zum Sessel, schnappte sich ein Kissen und platzierte es genau in dem Moment auf der Stuhllehne, als Debbies Kopf drohte, auf das blank polierte Holz zu fallen und ihr eine hübsche Beule zu bescheren. Jetzt war sie wirklich in einer halbwegs stabilen Schlafposition.
Er musterte noch einmal kurz ihr von Haaren verdecktes Gesicht, bevor er sich bückte, den Hut aufhob und ihn schräg auf ihrem Kopf platzierte, bevor er ebenfalls das Wohnzimmer verließ und die leise schnarchende Debbie immer tiefer in den Schlaf glitt.
Morgen würde Mrs. Hudson aber eine besondere Überraschung erleben.
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Die Diebin
FanfictionEs ist nicht leicht, eines der stärksten Sicherheitssysteme Europas zu überlisten. Und es ist nicht gerade leicht, die weltbesten Agenten an der Nase herumzuführen. Allerdings gibt es jemanden, der das kann: Die Diebin. Am 24. April 2006 verschwand...