Glaubwürdigkeitstest Nummer 2
Als er nach dreihundert Metern Fußweg bei der Klinik angekommen war und eintrat, wurde er lachend von der Angestellten am Tresen begrüßt.
"Hast du dich schon wieder beim Rasieren geschnitten?", gluckste sie und sah ihn belustigt an. Die frische Schnittwunde an seinem Kinn leuchtete rot und war erst frisch verkrustet. Er verdrehte genervt die Augen und verschränkte die Arme vor der Brust.
"Halt den Mund, Viv", entgegnete er trocken, seine Augen lächelten jedoch leicht. Hoffnung schwankte in seiner Stimme mit. "Habe ich noch Zeit für einen Kaffee?"
"Nein, hast du nicht", antwortete Vivian, immer noch schmunzelnd. Ihre Haare hatte sie sich wieder zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden. "Dein Patient wartet bereits seit einer halben Stunde vor dem Sprechzimmer. Wie kommst du überhaupt zu spät, obwohl deine Wohnung nur ein paar Straßen weiter ist?"
"Nenn das Ding bitte nicht Wohnung", seufzte er und rieb sich die Stirn. Als Psychologiestudent verdient man vor allem während den Praktika so gut wie nichts. Es war ein Wunder, dass er sich überhaupt den Keller, in dem er wohnte, leisten konnte, so ganz ohne finanzielle Unterstützung von außen. Wenigstens musste er fast gar keine Steuern zahlen, das war schon mal etwas. "Ich kann froh sein, dass ich mir nicht noch das Badezimmer mit Mrs. Grew teilen muss."
"Ist doch heiß", sagte Vivian, wackelte mit den Augenbrauen und lachte, als sie seinen Gesichtsausdruck sah. "Geh mal lieber zu seinem Patient, ich registriere dich zwischendurch mal als anwesend."
"Danke, bis gleich", erwiderte er müde, gähnte ausgiebig und verschwand in den linoleum-überzogenen Gängen der Klinik.
Nachdem er ein paar Mal abgebogen war gelang er zu seinem eigenen Sprechzimmer, wo bereits eine junge Frau auf den Stühlen davor saß und auf ihrem Handy herum tippte. Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Ihre kupferroten, glatten Haare hatte sie zu einem kinnlangen Bob geschnitten, welcher ihr blasses Gesicht perfekt einrahmte. Sie hatte etwas breitere Schultern, eine aufrechte Sitzhaltung und eine anziehende Ausstrahlung. Auf ihrem Kopf saß ein dunkelblauer, klassischer Hut.
Als er sich räusperte, hob sie sofort ihren Blick und fixierte ihn mit einem Paar funkelnder, grüngrauer Augen. Ihr Blick zuckte zum Krankenhauslogo an seinem Kittel, dann stand sie auf, lächelte ihn freundlich an und reichte ihm die Hand. Sie war dank einem Paar Absatzschuhe nur ein winziges Stück kleiner als er und trotz ihrer geringen Oberweite hatte sie eine wunderbare Figur. Ein leichter Schauer lief ihm über den Rücken. Das war seine Patientin? Er hätte sie viel lieber an einer Bar getroffen anstatt in seinem Sprechzimmer. Beschämt fasste er sich mit der einen Hand an die Schnittwunde von heute morgen, während er mit der anderen ihre Hand nahm und sie schüttelte. Ihre Haut war weich und ihr Händedruck fest und bestimmt. Ihre gesamte Erscheinung war eine Mischung aus Weiblichkeit und Emanzipation. Genau solche Frauen hatte er schon immer am attraktivsten gefunden. Bei Gott, er musste sich wirklich zusammen reißen. Diese Frau vor ihm war nicht aus guten Gründen hier.
"Guten Tag, Sir. Ich nehme an, Sie sind mein Therapeut?", fragte sie und ihr Lächeln wurde etwas breiter. Es war wirklich unverschämt, dass Kriminelle heutzutage so gut aussehen mussten, dachte er bei sich.
Er räusperte sich und versuchte, seinen Blick von ihrer breiten Hüfte abzuwenden. "Das ist richtig. Mein Name ist Ezra Hyde. Und mit wem habe ich das Vergnügen?"
"Ich heiße Debbie Johnson", antwortete sie ruhig und schmunzelte. "Nun, Mister Hyde, wie wäre es, wenn wir anfangen würden?"
"Selbstverständlich", sagte Ezra und kramte peinlich berührt seinen Schlüssel aus seiner Jackentasche. Er durfte sich den Rest der Sprechstunde wirklich nicht von dem Auftreten dieser Frau ablenken lassen. Sein Job war an sich einfach, sofern er sich richtig konzentrierte. Innerlich seufzte Ezra auf. Glück mit Frauen hatte er wirklich keins. Entweder sie waren nicht sein Typ, oder sie kreuzten als Kriminelle bei ihm in der Klinik auf, um sich vor dem Polizeiverhör auf Glaubwürdigkeit überprüfen zu lassen. Eine furchtbare Verschwendung von gutem Aussehen und selbstbewusster Ausstrahlung.
Oo.oO
Vollkommen entnervt stapfte Debbie um sechs Uhr abends aus der Polizeistation. Zwei Stunden Sprechstunde mit einem gaffenden Therapeuten, der offensichtlich keine Ahnung von Selbstbeherrschung hatte, gefolgt von fünf Stunden intensiven Verhörs auf dem Revier. Und grobe Ergebnisse wollte ihr auch keiner mitteilen, bloß ein trockenes "Sie können jetzt gehen". Und worauf durfte sie sich jetzt vorbereiten? Weitere fünf Stunden Nachtclub, singen, flirtende Typen abweisen und dann noch drei Kapitel für ihr neueste Buchreihe schreiben. Sie seufzte laut auf, als sie das nächste Taxi heranwinkte und einstieg.
"Phoenix Street 6, bitte", sagte Debbie müde und ließ sich erschöpft auf den Sitz fallen. Am besten hielt sie noch ein dreißig Minuten Nickerchen, bevor sie sich schminkte und ihr Kostüm für heute Abend anzog. Sie hatte für jeden Wochentag eins, das ersparte ihr ständige Shoppingtouren mit unnötigen Ausgaben und brachte trotzdem Vielfalt mit sich. Heute war es ein schwarz-weiß kariertes Galakleid mit Federn und Strass, die passende Perücke war im Marilyn-Monroe-Style. Unauffällig würde Debbie heute Abend jedenfalls nicht aussehen.
Nachdem sie bei ihrem Hotel angekommen war und den Taxifahrer bezahlt hatte, legte sie sich schon die passenden Worte für den Portier zurecht, bevor sie überhaupt eintrat. Dessen Gesicht hellte sich bei Debbies Anblick deutlich auf.
"Guten Tag, Debbie", begrüßte er sie freundlich und lächelte herzlich. Schuldgefühle regten sich in ihr, als sie die Ehrlichkeit hinter dieser Geste erkannte, doch diese unterdrückte sie sofort wieder. Sie hatte schon viele Männer für ihre Zwecke ausnutzen müssen, einer mehr oder weniger würde nicht wehtun.
"Hallo, Jack", erwiderte sie lächelnd und zwinkerte ihm zu, bevor sie mit schnellen Schritten auf den Aufzug zusteuerte. Seufzend blieb sie mit dem Rücken zur Rezeption stehen und drehte sich erst um, als die Türen geschlossen waren.
DU LIEST GERADE
Die Diebin
FanfictionEs ist nicht leicht, eines der stärksten Sicherheitssysteme Europas zu überlisten. Und es ist nicht gerade leicht, die weltbesten Agenten an der Nase herumzuführen. Allerdings gibt es jemanden, der das kann: Die Diebin. Am 24. April 2006 verschwand...