16. Meine ausführlichen Berichte über das Stalker-Dasein

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16. Meine ausführlichen Berichte über das Stalker-Dasein

Kurz ehe Jarek einen kleinen Wald in der Nähe passierte, erreichte ich ihn. Schon bevor ich auf zehn Meter an ihn herangetreten war, blieb der Junge stehen. Er stand einfach da, ohne mir das Gesicht zuzuwenden.

»Ich werde nicht abhauen«, murmelte er. »Ich hätte ohnehin niemandem, zu dem ich könnte.«

Auch ich blieb stehen, um ihn nachdenklich zu mustern. »Ich weiß.«

Nun drehte Jarek sich doch um, irritiert und möglicherweise etwas verunsichert. In seinen Augen spiegelte sich eine Emotion, die ich nie zuvor bei jemand anderen bis auf mich erblickt hatte: Absolute Hilflosigkeit, gepaart mit dem Langen nach etwas, das schon lange fort war. »Woher?«

Ich räusperte mich und blickte in eine andere Richtung, damit er nicht sah, dass sich in meinen Augen die gleiche Empfindung spiegelte. »Von daher, von wo ich auch weiß, dass du jetzt ungefähr 21 Jahre sein müsstest und Jarek nur ein Spitzname ist – dein eigentlicher Name ist Jay Arek. Als du gerade einmal fünf Jahre alt warst, hat man begonnen, harmlose Experimente mit dir durchzuführen. Harmlos wurde zu kompliziert, kompliziert zu groß und groß zu schmerzhaft. Als dann Lokis Zepter hinzukam, wurden Kräfte in dir geweckt, die nur darauf warteten, aus ihrem Schlummer gerissen zu werden.«

»Wie...« Jarek schüttelte den Kopf, voller Unglauben. »Wenn du all das weißt, warum hast du es dann nicht deinen Freunden in Metall und Strumpfhosen erzählt?«

Ich zuckte mit den Schultern. »Weil sie dann gewusst hätten, dass ich nicht da war, um ihnen zu helfen, Baron von Strucker hochzunehmen, sondern meine eigenen Ziele verfolgt habe.«

»Das... Ich verstehe nicht.«

»Keine Sorge, das tut niemand.« In dem Versuch, die angespannte Stimmung ein wenig aufzulockern, lächelte ich ein schiefes Lächeln. »Das mit eben tut mir leid. Das war echt nicht Luke zuzuschreiben.«

Jarek verschränkte die Arme vor der trainierten Brust. Seine braunen Haare wehten ihm in einer lauen Brise ins Gesicht, die auch das Gras um uns wie ein Meer wogen ließ. »Ach ja?«

»Ja. Das war meine Idee, um an ein paar Informationen zu gelangen, verstehst du? Eigentlich ist Luke echt in Ordnung.«

»Keine sonderlich gute Idee«, merkte Jarek trocken an. »Wozu weitere Informationen, wo du ohnehin schon fast alles weißt?«

Ich schnalzte mit der Zunge. »Ich weiß nicht fast alles. Eigentlich eher so gut wie gar nichts. Nur das, was in deiner Akte zu finden ist, und das reicht eben nicht.«

»Warum nicht?«, hakte Jarek nach. Er legte den Kopf schief wie ein neugieriger Hundewelpe, der zwar nicht wusste, was vor sich ging, aber durchaus gewillt war, alles zu lernen und zu verstehen, was es zu lernen und zu verstehen gab.

»Darum eben.« Ich verschränkte die Arme und wechselte das Thema, ehe er tiefer nachbohren konnte: »Du hast gesagt, du bist freiwillig mitgegangen. Cap aber meinte, er hat dich überwältigen müssen. Was ist nun die ganze Wahrheit?«

Jarek zögerte. Er schien nicht willens, das vorherige Thema fallen zu lassen, doch schließlich, nach einigen Sekunden Bedenkzeit murmelte er: »Ich wollte dort weg. Sie haben mir all das angetan. Aber andererseits... konnte ich einfach nicht gehen. Die Stärke des berühmt-berüchtigten Captain America hat dann schließlich für eine der Möglichkeiten entschieden.«

Nachdenklich musterte ich den Jungen vor mir. Etwas schwang in dem Knospengrün seiner Augen, das ich mir nicht erklären konnte – irgendetwas zwischen Bitterkeit, Verwundbarkeit und tiefsitzender Trauer. »Ich wäre gegangen«, erklärte ich überzeugt. »Mich hätte da nichts gehalten. Warum wolltest du bleiben?«

Jasmin Strange - Wir lassen Gras darüber wachsenWo Geschichten leben. Entdecke jetzt