Die Flucht

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Die ersten Strahlen der Sonne schienen durch ein großes Fenster, in einem Raum in dessen Mitte ein großes Himmelbett stand. In dem Bett lag ein Mädchen mit roten Haaren, welches inmitten eines Bergs aus weichen Kissen und warmen Decken tief und fest schlief. Es klopfte an der Tür. Das Mädchen erwachte gähnend, streckte sich ausgiebig, rieb sich verschlafen die Augen und sah blinzelnd aus dem Fenster. Eine alte, stämmige, kleine Frau öffnete die Tür. Ihr Haar, welches zu einem strengen Knoten gebunden war, stand ganz im Gegensatz zu ihrem gutherzigen Lächeln auf dem freundlichen, runden Gesicht „Habt ihr gut geschlafen Mylady Lyndis?“
Das Mädchen lächelte die Frau an und antwortete: „Sehr gut, Hilda. Aber seit wann sprichst du mich so förmlich an?“
Lyndis war es gewohnt, dass Hilda sie mit „Du“ ansprach und sie wie ein Kind behandelte. Die alte Frau war seit Lyndis Geburt ihr Kindermädchen gewesen und stand ihr genauso nahe wie ihre Mutter.
„Na Heute ist doch euer Geburtstag. 16 Jahre seid ihr nun schon alt und geltet somit offiziell als Frau. Und da ihr die Prinzessin dieses Landes seid und nun eure Kindheit hinter euch lasst, gebührt es euch mit Mylady angesprochen zu werden!“
Lyndis lächelte schwach und sagte: „Hilda, du bist wie eine zweite Mutter für mich, du solltest mich einfach nicht so ansprechen.“
„Daran werdet ihr euch gewöhnen, meine Liebe. So nun aber hopp, hopp aus dem Bett. Wir müssen euch zu Recht machen. Schließlich wollt ihr doch heute auf dem Ball adrett aussehen und jedem zeigen zu was für einer hübschen Frau ihr herangewachsen seid.“
In diesem Moment verging dem Mädchen das Lächeln. Der Ball. Sie hasste Bälle und nicht nur Bälle. Sie konnte das ganze Leben auf dem königlichen Hof nicht ausstehen. Ihre Eltern hatten ihr von Kindesbeinen an eingebläut dass sie als Prinzessin Verpflichtungen gegenüber dem Volk hatte. Sie musste immer hübsch anzusehen sein und sich immer gut benehmen. Lyndis hatte die anderen Kinder, die nicht von königlicher Herkunft waren immer beneidet. Sie hatte nie so ausgelassen sein können. Ihr Tagesplan war immer straff gewesen und sie hatte Tag für Tag gelernt, wie man sich an einem königlichen Hof zu verhalten hatte anstatt wie die anderen draußen herumzulaufen und zu spielen.

„Ach Hilda, muss das sein?“, fragte Lyndis in der Hoffnung noch etwas Zeit zu schinden.
„Aber Prinzessin, heute ist doch der Ball zu euren Ehren. Jeder will euren Geburtstag mit euch feiern. Fast alle Edelleute dieses Landes werden hier sein. Dafür müsst ihr euch hübsch zu Recht machen. Und jetzt ab aus dem Bett bevor das Wasser in eurem Bad kalt wird.“
Missmutig stand die Prinzessin auf. „Ich wünschte ich wäre keine Prinzessin“, flüsterte sie leise zu sich selbst.
Hilda hörte dies und hielt ihr daraufhin einen Vortrag darüber, wie schön das Leben einer Prinzessin im Gegensatz zu dem des einfachen Volkes war und wie froh sie darüber sein konnte in eine königliche Familie hineingeboren worden zu sein.
Lyndis hätte liebend gerne mit jedem Mädchen des einfachen Volkes getauscht um den heutigen Torturen zu entgehen. Es war ihr Geburtstag. Andere verbrachten diesen Tag so wie sie es gerne wollten. Lyndis Tagesablauf war sogar heute straff durchgeplant. Aufstehen, gebadet werden, Frühstücken, Haare machen, schminken, Kleider probieren und so weiter. All dies stand ihr noch bevor, bis schließlich der Abschluss des Tages mit dem Ball kam. Sie wünschte, dass sie die Pflichten einer Prinzessin für diesen einen Tag im Jahr ablegen dürfte, doch dieser Wunsch würde sich wohl nie erfüllen.

Lyndis stand vor dem Spiegel und sah missmutig auf ihr Spiegelbild. Ihre Mutter hatte ein seidenes, grünes Ballkleid ausgewählt, das mit silbernen Stickereien verziert war. Die Stickereien erinnerten entfernt an elfische Runen und gaben dem Kleid ein mystisches  Aussehen. Das Mädchen musste zugeben das es ein sehr schönes Kleid war, jedoch fühlte sie sich darin trotzdem nicht wohl. Sie trug silberne Ohrringe und ein Diadem mit kleinen Smaragden, die beinahe dasselbe Grün wie ihre Augen hatten. Ihre Haare fielen in leichten Locken über ihre Schultern und wurden durch das Diadem gebändigt.
„Du siehst wunderschön aus, Lyndis!“, rief ihre Mutter vor entzücken aus, als sie ihre Tochter erblickte. Lyndis warf ihr einen verärgerten Blick zu. Die Königin überging diesen und begann damit die einzelnen Strähnen der Haare der Prinzessin zu Recht zu zupfen. Als sie schließlich zufrieden war ging sie zu einem dem Schminktisch auf dem eine kleine Schmuckschatulle stand, die solange sich das Mädchen zurück erinnern konnte, immer fest verschlossen gewesen war. Nun holte ihre Mutter den Schlüssel hervor und schloss die Schatulle auf. Sie holte eine silberne Kette hervor, an der in einer sehr schönen, geschnörkelten Fassung, ein roter Edelstein hing, der ein schwaches Licht auszustrahlen schien. Es sah beinahe so aus, als würde sich in seinem Inneren etwas bewegen.
Als Lyndis die Kette sah, stockte ihr der Atem. Obwohl sie Schmuck eigentlich nicht besonders mochte, fand sie diese Kette, von der eine seltsame Kraft auszugehen schien, wunderschön. Die Königin lächelte glücklich, als sie zum ersten Mal den Gesichtsausdruck eines Mädchens, das sich in ein Schmuckstück verliebt hatte, an ihrer Tochter sah.
„Lyndis, ich möchte dir diese Kette vermachen. Bei ihr handelt es sich um ein altes Familienerbstück, das sich seit Jahrhunderten im Besitz deiner Vorfahren befindet. Ab dem heutigen Tag sollst du es tragen. Versprich mir, gut darauf aufzupassen und es immer in Ehren zu halten! Diese Kette ist nicht nur sehr wertvoll, sondern unersetzbar“, die Lippen der Königin umspielte ein leichtes Lächeln, als sie noch hinzufügte: „Irgendwann wirst du die Königin von Lutriel sein und dieses Erbstück so wie ich an die wunderschöne Tochter weitergeben, die du bestimmt irgendwann bekommen wirst.“
Die Frau legte ihrer Tochter die Kette um den Hals und gab ihr einen sanften Kuss auf die Stirn. Als der Stein ihre Haut berührte spürte das Mädchen eine angenehme Wärme davon ausgehen, die eine beruhigende Wirkung zu haben schien.
„Danke Mutter, sie ist wunderschön und ich verspreche dir diese Kette in Ehren zu halten“, flüsterte Lyndis dankbar. Ihre Mutter sah sie überrascht an, da ihre Tochter noch nie zuvor ein positives Wort über ein Schmuckstück verloren hatte, welches man ihr geschenkt hatte.
„Es freut mich dir eine Freude machen zu können und du kannst mir glauben, dass du wirklich wundervoll aussiehst, Schatz! Und wir sind gerade rechtzeitig fertig geworden. Gleich beginnt der Ball. Dein Vater wartet bestimmt schon. Und Schatz, bitte vergiss nicht, du hast Verpflichtungen! Lehne es bitte nicht zu oft ab zu tanzen.“
Das Mädchen verzog das Gesicht, nickte aber gehorsam und verließ daraufhin mit der Königin den Ankleideraum, um die Gemächer des Königs aufzusuchen.
Der König betrachtete seine Tochter kurz sprachlos, bevor er ausrief: „Du siehst wundervoll aus und machst einer Prinzessin alle Ehren“, dann warf er einen Seitenblick auf seine Frau und fügte mit einem Schmunzeln hinzu: „Du bist eben genau so bezaubernd schön wie deine Mutter in deinem Alter war.“ Danach erinnerte auch er seine Tochter noch einmal an ihre Pflichten.
Anschließend verließ die Königsfamilie die privaten Gemächer und machten sich auf den Weg zu dem Ballsaal. Der stolze  Vater nahm seine Tochter am Arm und schritt mit ihr gemeinsam gefolgt von der Königin die lange Treppe zur Feier hinab. Die dort bereits wartenden Menschen applaudierten der jungen Prinzessin.
Bevor der Ball und das Tanzen begannen wurde ein riesiges Festbankett aufgetischt, bei dem keines der Lieblingsgerichte der Thronerbin fehlte.
Von gefüllten Oliven bis hin zu mit Trüffeln gebratener Ente und Erdbeeren in Schokosoße gab es alles an Köstlichkeiten, was die umliegenden Ländereien zu bieten hatten. Zum Nachtisch wurden eine Vielzahl an Kuchen und Torten serviert.
Als das Festmahl beendet war begannen die Musiker fröhliche Lieder zu spielen. Lyndis und ihrem Vater gebührte der erste Tanz. Anmutig bewegten sie sich über die Tanzfläche und nach und nach begannen auch viele der Gäste zu tanzen und nur kurze Zeit später war der Saal erfüllt von Lachen und Musik. Als sich die Tanzfläche gefüllt hatte, tauschte Lyndis den Platz an der Seite ihres Vaters mit ihrer Mutter und verließ die Tanzfläche.
Eine Weile beobachtete sie das Geschehen von der Seite aus, bis schließlich die ersten Männer damit begannen sie zum Tanz aufzufordern. Obwohl Lyndis nicht die geringste Lust verspürte noch einmal zu tanzen, tat sie es, um den Vorstellungen ihrer Eltern gerecht zu werden und sich später keine Vorwürfe machen lassen zu müssen. Nachdem sie beinahe eine Stunde lang getanzt hatte, verließ sie den Ballsaal, um etwas frische Luft zu schnappen. Sie ging durch die Gärten des Schlosses, die zu dieser späten Stunde eine unglaubliche Ruhe boten. Sie ließ sich auf einer Bank, die vor einem Brunnen, der leise vor sich hin plätscherte, stand, nieder. Das Mädchen lauschte dem Plätschern mit geschlossenen Augen und genoss den leichten Duft der Blumen, die zu dieser Jahreszeit im gesamten Schlossgarten in einer traumhaften Vielfalt blühten. Schon immer hatte die Prinzessin den Frühling geliebt, in dem die Natur zu neuem Leben erwachte und die Kälte durch die stärker werdende Sonne vertrieben wurde.
Sie fühlte sich draußen in der Natur viel Wohler, als zwischen all den Menschen. Für den Moment genoss Lyndis die Ruhe, auch wenn sie wusste, dass sie bald wieder zu dem Fest zurückkehren musste, um kein Aufsehen zu erregen.
   Plötzlich durch schnitt eine Stimme die Stille: „Prinzessin Lyndis, euch habe ich hier draußen wahrlich nicht erwartet.“
Das Mädchen öffnete überrascht die Augen und sah in das Gesicht eines ihr völlig unbekannten Jungen. Er war etwa in ihrem Alter und hatte braunes, struppiges Haar, das widerspenstig von seinem Kopf abstand. Im Gegensatz dazu trug er edle Kleidung, die bewies, dass er dem höheren Adel angehörte und bedeutete, dass sich Lyndis höfflich ihm gegenüber verhalten musste.
„Und wer seid ihr?“, fragte Lyndis, die nur mit Mühe verhindern konnte, dass ihr Unmut über die Störung in ihrer Stimme zu hören war. Sie hatte gehofft hier draußen wenigstens ein paar Minuten Ruhe zu finden, aber sogar dieser Wunsch blieb ihr verwehrt.
„Oh verzeiht, wie unhöflich mich nicht vorzustellen. Ihr könnt mich ja nicht kennen, schließlich habe ich noch nie zuvor einen Fuß in dieses Schloss gesetzt. Ich bin Edward van Duno, Sohn von Graf Gustavo van Duno. Oh, und alles Gute zu eurem Geburtstag, Mylady.“ Der Junge verbeugte sich tief und lächelte sie aufrichtig an.
Lyndis kannte den Namen von Edwards Vater natürlich, schließlich war er der Graf der größten Grafschaft des Reiches ihres Vaters. Gleichzeitig war er der engste Vertraute und der beste Freund des Königs. Doch obwohl Gustavo sehr oft Zeit am Hof ihres Vaters verbrachte, hatte Lyndis seinen Sohn noch nie zu Gesicht bekommen.
„Es freut mich euch kennen zu lernen, Edward“, sagte Lyndis höflich, obwohl sie in diesem Moment nicht die geringste Freude daran finden konnte dem Jungen über den Weg gelaufen zu sein.
„Die Freude ist ganz meinerseits. Ihr wundert euch sicher, warum ihr mich hier noch nie gesehen habt. Es ist das erste Mal das ich hier bin, da mein Vater mich bis jetzt immer vom Schloss ferngehalten hat. Er wollte, dass ich zuhause alles lerne, bevor er mich in die Welt hinausschickt. Doch zu diesem besonderen Anlass hat er beschlossen mir zu erlauben mitzukommen und mich mit eigenen Augen von der Schönheit der Prinzessin zu überzeugen.“ Der Junge machte eine kleine Pause und grinste schelmisch, ehe er fortfuhr. „Und ich muss zugeben, ihr seid wirklich sehr hübsch.“
Lyndis spürte wie sie rot wurde und antwortete: „Ich danke euch für das Kompliment.
„Verzeiht mir bitte die Frage, aber warum seid ihr hier draußen und nicht auf dem Ball, der zu euren Ehren gehalten wird?“, fragte Edward neugierig.
Das Mädchen vergaß für einen Moment ihre Manieren und antwortete genervt: „Ich könnte euch auch fragen, warum ihr lieber hier draußen seid als an den Festlichkeiten teilzunehmen.“
Edward lachte und antwortete: „Nun, ich gehöre wohl nicht zu den Menschen, die ihre Zeit gerne auf Bällen verbringt. Ich bin lieber in der Natur und um ehrlich zu sein ergriff ich die erstbeste Gelegenheit, um nach draußen zu entwischen und mir das Schloss anzusehen. Und offensichtlich hat es sich für mich gelohnt. Wäre ich auf den Ball geblieben, hätte ich wohl kaum die Gelegenheit bekommen mit der Prinzessin ein paar Worte zu wechseln.“
Lyndis spürte, wie die Röte in ihr Gesicht zurückkehrte und war sehr froh, dass es schon dunkel war und Edward dadurch nichts davon bemerkte. Schließlich gestand sie:
„Ich verbringe meine Zeit auch lieber hier draußen, als in den Hallen des Schlosses“
Der Junge lachte leicht. „So was dachte ich mir schon. Dennoch hätte ich jetzt Lust mit euch zu tanzen. Natürlich nur wenn ihr wollt.“
Die Prinzessin wurde schon wieder rot. Sie lächelte und antwortete, dass sie liebend gern mit ihm tanzen würde. Gemeinsam gingen sie zum Ballsaal zurück. Auf den Weg dorthin unterhielten sie sich über Edwards Heimatort, da das Mädchen neugierig war, wie es in der Grafschaft aussah,
schließlich hatte sie sie noch nie gesehen. Lyndis hatte ihr ganzes Leben im Schloss und der näheren Umgebung verbracht, da ihr Vater kaum Beziehungen zu den anderen Ländern pflegte. Lutriel lag zum größten Teil auf einer Halbinsel im Westen des Kontinents Soleria und war somit ziemlich abgeschieden von den restlichen Ländern, die sich auf dem Kontinent befanden.

Im Saal tanzten die beiden ausgelassen. Lyndis hatte sich noch nie so wohl auf einen Ball gefühlt, wie in diesen Momenten. Als der Tanz langsam zu Ende ging und Lyndis und Edward die Tanzfläche verließen, stürmte ein Soldat des Königreiches plötzlich in den Saal und verlangte umgehend den König zu sprechen.
Der König stand auf und donnerte wütend: „Verschwinde. Dies ist die Feier meiner Tochter. Ich will nicht das sie gestört wird.“
„Herr, ich entschuldige mich vielmals bei euch und eurer Familie. Jedoch muss ich darauf bestehen kurz mit euch zu reden.“
Der König seufzte, bat die Gäste der Feier ihn kurz zu entschuldigen und verließ dann den Saal, um mit dem Soldaten zu sprechen. Von einem Moment auf den anderen herrschte totale Stille. Die Musiker hatten aufgehört zu spielen und alle Gespräche waren verstummt.
Nach ein paar Minuten kam der König zurück und erklärte:
„Meine Damen und Herren es gibt keinen Grund zur Beunruhigung, ich musste nur kurz ein paar Fragen beantworten. Feiert nun bitte weiter. Musiker fangt wieder zu spielen an.“
Die Menschen, die durch die Worte ihres Königs beruhigt worden waren, gehorchten und setzten das Feiern fort.
Lyndis war der Blick ihres Vaters jedoch nicht entgangen, der deutlich ausgesagt hatte, dass der Soldat mehr, als nur die Antwort auf ein paar Fragen, von ihm wollte. Sie beobachtete ihn und sah ihn aufgeregt mit der Königin tuscheln, deren Gesicht langsam an Farbe verlor. Die Prinzessin beschloss der Sache auf den Grund zu gehen und sagte zu Edward: „Würdet ihr mich bitte kurz entschuldigen? Ich werde gleich wieder zurück sein.“
Edward nickte. „Natürlich. Ich hole uns der Weilen etwas zu trinken.“
Lyndis schenkte ihm noch ein kurzes Lächeln und bahnte sich dann ihren Weg Richtung Thron. Sie hatte ungefähr die Hälfte des Weges zurückgelegt, als plötzlich, aus dem Nichts, ein Ohrenbetäubendes Krachen ertönte. Das Mädchen spürte wie der Boden unter ihr erzitterte. Bevor sie begriff, was das Geräusch ausgelöst hatte, sah sie Mauerteile durch die Luft fliegen.
Schreie waren zu hören und in der Außenwand des großen Saales klaffte ein großes Loch, durch das wappenlose Soldaten strömten, die alle vollständig in schwarze Rüstungen gehüllt waren.
Nur wenige Sekunden später flogen die Türen auf, die in den Saal führten und die Soldaten Lutriels stürmten in die Halle.
Kurz darauf folgten weitere Erschütterungen, die von Ohrenbetäubendem Lärm begleitet wurden und der Ballsaal verwandelte sich immer mehr in ein Trümmerfeld. Plötzlich traf eine Kanonenkugel einen Stützpfeiler, woraufhin ein Teil der Decke nachgab und auf die panischen Gäste herunterfiel.
Lyndis stand in Mitten des Geschehens. Noch bevor sie begreifen konnte was passierte, sah sie die Trümmer der Decke auf sich herabkommen. Wie durch ein Wunder wurde Lyndis von keinem der Trümmer ernsthaft verletzt. Zwei große Teile der Decke verkeilten sich ineinander und begruben das Mädchen halb unter sich. Die Prinzessin versuchte unter den Trümmern hervorzukriechen, doch etwas hinderte sie daran. Als sie nach dem Grund dafür suchte, stellte sie fest, dass ihr Kleid unter den Trümmern verkeilt war. Sie versuchte mit aller Kraft den Stoff unter dem schweren Stück Decke herauszuziehen, doch es gelang ihr nicht. Sie schaffte es nicht einmal den stabilen Stoff zu zerreißen und so blieb ihr nichts anderes übrig, als unter den Trümmern zu verharren.

Überall um sich herum hörte das Mädchen die Schreie der Menschen, die bis vor wenigen Minuten noch ausgelassen gefeiert hatten. Nun war die Todesangst deutlich zu spüren. Neben den Schreien war auch der Kampflärm zu hören. Das Klirren von aufeinander treffenden Klingen, das knacken von zerberstenden Knochen und die Beleidigungen, die sich die Soldaten an den Kopf warfen, doch die Prinzessin sah nicht, wie sich der Kampf entwickelte, da ihr Sichtfeld von den Trümmern eingeschränkt wurde. Allerdings reichte dem Mädchen das was sie sah, um die Panik in sich aufsteigen zu spüren. Die schwarzen Ritter töteten ohne Rücksicht jeden Menschen, der in die Nähe ihrer Klingen kam. Lyndis wollte nur noch weg von diesem Ort und erneut zog sie mit all ihrer Kraft an ihrem Kleid, um es aus den Trümmern zu befreien. Jedoch scheitere sie, wie schon bei ihrem ersten Versuch, woraufhin sich ihre Augen mit Tränen füllten. Kurze Zeit später gab das Mädchen auf und hob den Blick etwas.
Sie sah, wie sich eine Frau voller Angst gegen die Trümmer presste, die gegenüber von Lyndis lagen. Ein schwarzer Soldat, der langsam auf die Frau zuging, bewegte sich nun in ihr Blickfeld. Ein Wimmern kam aus dem Mund der Frau, bevor sie sich vor dem Ritter auf den Boden warf und um Gnade flehte. Dieser ignorierte das Flehen der Frau jedoch. Er packte sie an den Haaren und zog sie in die Höhe, danach schlug er ihren Kopf solange gegen die Trümmer, bis ihre Schreie verstummten und ihr Körper leblos zu Boden fiel. Lyndis konnte, aufgrund dieses Anblicks, einen Aufschrei nicht unterdrücken. Daraufhin drehte der Ritter sich langsam zu ihr um. Das Mädchen konnte die Mordlust in seinem Blick deutlich sehen. Der Mann lächelte sie böse an und bewegte sich immer näher auf sie zu. Lyndis konnte das Knirschen der schwarzen Metallplatten der Rüstung hören, die bei seinen Bewegungen übereinander schabten. Sie konnte das Blut riechen, das am Körper des Ritters klebte. Die Prinzessin spürte die Panik, die sich mit jedem Schritt den er auf sie zu machte verstärkte. Erneut begann sie panisch und mit aller Gewalt an ihrem Kleid zu zerren, den Blick starr auf den langsam näher kommenden Ritter gerichtet. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie solche Angst gehabt und sie war sich sicher, dass ihr Leben in den nächsten Augenblicken zu Ende gehen würde.
Doch plötzlich verwandelte sich das böse Grinsen des Mannes in eine Grimasse aus Schmerz und nach zwei röchelnden Atemzügen begann ihm das Blut aus Nase und Mund zu rinnen. Kurz darauf fiel er nach vorne um, woraufhin das Mädchen den Dolch im Rücken des Angreifers sehen konnte. An der Stelle an der dieser gerade noch gestanden hatte, stand nun Edward.
Lyndis war erleichtert ihn lebend zu sehen. Sein Blick ruhte kurz auf ihr, bevor er seine Starre überwand und auf sie zu lief. Er schnitt ihr Kleid mit dem Dolch, den er wieder aus dem Rücken des Ritters gezogen hatte, von den Trümmern los und streckte dem Mädchen die Hand hin. Lyndis hätte nun endlich unter den Trümmern hervor kommen können. Jedoch war sie mittlerweile völlig starr vor Angst und ihr war es unmöglich sich zu bewegen. Schließlich schnaubte Edward, packte sie am Handgelenk und zog sie unter den Trümmern hervor. Er ließ sie daraufhin nicht los, sondern zog sie mit Gewalt hinter sich her.
„Wir müssen hier raus“, rief er ihr über den Lärm hinweg zu.
Lyndis kam langsam wieder zur Besinnung und versuchte panisch ihre Eltern in dem Chaos auszumachen, während Edward sie durch den Raum in Richtung Ausgang zog. Schließlich sah das Mädchen ihren Vater, der schützend vor seiner Frau stand und es mit drei Soldaten gleichzeitig aufzunehmen versuchte. Ungefähr eine Minute schaffte er es die Schwerter der Soldaten mit seiner eigenen Klinge aufzuhalten und es gelang ihm schließlich sogar die Deckung eines der Soldaten zu umgehen und ihm das Schwert durchs Herz zu bohren. Doch bevor er die Gelegenheit bekam sein Schwert wieder aus dem Körper des toten Soldaten zu ziehen, nutzte einer der anderen Ritter seine Chance und durchbohrte den König mit seiner Klinge.
Als Lyndis das Blut ihres Vaters sah, entfuhr ihr ein lauter Schrei.
Der König sackte langsam in die Knie, während sich um ihn herum eine Blutlache bildete. Bevor er aber endgültig zusammenbrechen konnte, schlug ihm der dritte schwarze Soldat mit einem hämischen Grinsen den Kopf ab.
Lyndis sah wie der Kopf ihres Vaters die Stufen vor dem Thron hinunterrollte und schließlich am unteren Ende der kuren Treppe zum Liegen kam, während der Torso des gefallenen Königs langsam am oberen Ende der Stufen in sich zusammenfiel.
Lyndis sah, wie ihre Mutter schluchzend zurückwich, während der Soldat, der ihren Vater den Kopf abgeschlagen hatte auf sie zuging. Doch anstatt sie einfach zu töten, packte er sie am Kinn und zwang sie ihm in die Augen zu sehen. Er sagte irgendetwas zu ihr und packte sie anschließend an der Hüfte. Er drehte sie herum und warf sie grob vor sich auf den Thron. Der andere Soldat hielt die Königin lachend fest, während der Königsmörder sich mit einem lüsternen Grinsen auf dem hässlichen Gesicht zu ihr umdrehte.
Der Blickkontakt der Prinzessin zu den Geschehnissen brach plötzlich ab, als Lyndis von Edward durch eine Tür in die Gänge des Schlosses gezogen wurde. Dorthin hatte sich das Kampfgeschehen noch nicht ausgebreitet und die beiden konnten sich nun schneller fortbewegen.
Lyndis spürte wie ihr die Tränen über das Gesicht rannten. Verzweifelt riss sie sich von ihrem Retter los und brach schluchzend zusammen. Der Junge packte sie wieder am Handgelenk und fuhr sie an: „Komm wir müssen weiter! Trauern können wir später! Im Moment ist nur wichtig, dass du das Schloss verlässt und in Sicherheit bist.“
Die Prinzessin kam wieder auf die Beine und rannte, an der Seite des jungen Mannes, in Richtung der Ställe. Innerlich fühlte sie sich völlig leer. Sie wusste nicht einmal, warum sie davon lief, warum sie versuchte zu entkommen und ihr Leben zu retten.
Edward rannte mit ihr geradewegs zu den Ställen, half ihr dort auf ein bereits gesatteltes Pferd und schwang sich dann hinter ihr auf den Rücken des Tieres. Danach gab er dem Pferd die Sporen, woraufhin das Tier losgaloppierte. Mit gewaltiger Geschwindigkeit verließ es die Stallungen und preschte über den Hof. Dorthin waren die schwarzen Ritter allerdings auch schon vorgedrungen und versperrten ihnen den Weg. Edward fluchte und riss das Pferd herum, um in der anderen Richtung einen Fluchtweg zu suchen, jedoch kamen nun aus dem Tor zu den Stallungen zwei der feindlichen Soldaten. Edward zügelte das Pferd und sah sich panisch um. Verzweifelt schloss er kurz die Augen und presst die Lippen zusammen. Als er die Augen wieder öffnete, war in ihnen deutlich seine Angst zu sehen, vielmehr strahlte aber die Entschlossenheit aus ihnen heraus am Leben zu bleiben und die Prinzessin in Sicherheit zu bringen.
„Gib auf Junge, diesen Ort verlässt heute niemand von euch lebend“, grollte einer seiner Widersacher.
Edward knurrte wütend, dann gab er dem unruhig tänzelndem Pferd erneut die Sporen und galoppierte direkt auf die feindlichen Soldaten zu. Der Junge verspürte große Erleichterung, als das Pferd einen Sprung über die Köpfe der Gegner machte und daraufhin in rasender Geschwindigkeit über den Hof und durch das, durch eine Ramme, völlig zerstörte Tor in die Nacht hinaus entkam. Auch in Lyndis machte sich langsam die Hoffnung breit, dieser Hölle entkommen zu können. Sie konnten die wütenden Rufe der Soldaten hören, die sie verfluchten und nicht fassen konnten, dass ihnen ihre Opfer tatsächlich zu entkommen schienen.
Nur ein einziger Mann blieb komplett ruhig. Er war zierlicher als alle anderen, dementgegen war die Bosheit in seinen Augen allerdings viel stärker ausgeprägt, als bei jedem anderen seiner Begleiter. Kurzentschlossen riss er einem der anderen Soldaten dessen Bogen aus der Hand und legte einen Pfeil an. Er flüsterte etwas, woraufhin der Pfeil kurz aufleuchtete und ein boshaftes Lächeln über die  Lippen des Mannes huschte. Zugleich ließ er die Sehne los und schickte, den unter normalen Umständen schon viel zu weit entfernten Flüchtenden, den Pfeil hinterher.

Plötzlich hörte Lyndis ein zischen und kurz darauf den Aufschrei Edwards, als der durch Magie manipulierte Pfeil sein Ziel fand. Sie spürte, wie er zu Schwanken begann und beinahe vom Pferd fiel. Nur unter großer Anstrengung und einiger gekonnter Verrenkungen gelang es ihm, sich wieder zu stabilisieren. Daraufhin gab er dem Pferd die Sporen, um es noch schneller anzutreiben. Die Prinzessin schaute sich in Richtung des Schlosses um und konnte den Blick des Mannes der den Pfeil abgeschossen hatte und noch immer den Bogen in der Hand hielt auf sich gerichtet spüren. Plötzlich hörte sie seine Stimme, so als würde er neben ihr stehen: „Dein Freund wird die Nacht wahrscheinlich nicht überstehen, Prinzeschen, aber sei nicht traurig, den auch dich wird bald dasselbe Schicksal ereilen und ich, Tiruen, werde es sein, der über deinem Leichnam steht.“
Lyndis spürte einen Schauer durch ihren Körper fahren und sie überlief eine Gänsehaut als der Mann sich umdrehte und eine Hand in die Luft streckte. Aus allen fünf Fingern schossen plötzlich Flammen in den Himmel, die sich zu der Gestalt eines riesigen Drachen verbanden, welcher daraufhin wild mit den Flügeln schlagend, ein breite Flammspur hinter sich her lodernd, über das Schloss flog. Als er genau über dem Zuhause der Prinzessin war bäumte sich sein brennender Leib auf, während die Flammen sich zerstäubten. Sie prasselten wie Regen auf das Schloss hinab, welches dadurch langsam in lodernden Flammen aufging, während die Entfernung zwischen den Reitern und dem Schloss immer größer wurde und Lyndis einen verzweifelten Schrei ausstieß, welcher in der klaren Sternennacht 100fach von den höchsten Bergwänden wiederhallend in einem grausemen Stakkato verklang.
Sie konnte selbst jetzt noch die entfernten Echos der Schreie derer vernehmen die sich noch immer in ihrem brennenden Zuhause aufhielten und entweder brutal niedergemetzelt, oder von den Flammen verschlungen wurden.
Ungeachtet dessen galoppierte das Pferd immer weiter, woraufhin die schrecklichen Klänge langsam der Stille wichen, die nur von dem Geräusch der Hufe unterbrochen wurde, rhythmisch auf den Boden schlagend. Auch das in Flammen stehende Schloss wurde nach und nach kleiner, bis nur noch der rötliche Schein des Feuers am nächtlichen Horizont zu sehen war. Eine Bergwand, deren Umrisse sich schwarz im Schein des Infernos abzeichneten, blieben die letzten stummen Zeugen des grausamen Untergang eines Königreiches.
Das Pferd verfiel in einen gemächlichen Trab und wurde nach und nach noch langsamer. Lyndis spürte einen Lufthauch, der den Geruch von Blumen mit sich trug. Mit einem Mal schien alles was geschehen war wie ein ferner Traum, doch Edwards ungleichmäßigen, rasselnden Atem, der nun, da das Geräusch der donnernden Hufe verschwunden war, deutlich zu hören war, holten Lyndis in die Realität zurück. Gerade als sie etwas zu ihm sagen wollte, kippte der Junge zur Seite und fiel vom Rücken des Pferdes. Mit einem dumpfen Geräusch und einem lauten aufstöhnen schlug er auf den Boden. Das Reittier blieb kurz darauf stehen und die Prinzessin stieg ungeschickt von dem erschöpften Tier. Voller Sorge kniete sie sich neben ihren Retter, in das von Tau überzogene Gras.

„Edward“, flüsterte sie verzweifelt.
Aus seinem Rücken ragte ein Pfeil mit schwarzen Federn. Der Junge öffnete die Augen und sah dem Mädchen geradewegs in die Augen.
„Lyndis. Ich werde dich wohl nicht weiter beschützen können. Es tut mir Leid, dass ich nicht nützlicher sein konnte“, keuchte er.
„Nein, Edward, du darfst nicht sterben. Edward, bitte!“, flehte das Mädchen, als sie seine rechte Hand fest in die ihren nahm.
„Ich wünschte, ich könnte an deiner Seite bleiben, doch bleibt mir dieser Wunsch wohl verwehrt ….“ Der Junge fing zu husten an und Blut kam aus seinem Mund. Trotzdem redete er angestrengt weiter: „Du musst weiterziehen. Gehe zur …“, wieder stockte er und hustete, bevor er weitersprach: „Grafschaft meines Vaters. Dort wird man dich aufnehmen.“ Danach flüsterte er nur noch ganz schwach, so dass Lyndis nur noch die letzten Worte verstehen konnte: „Versprich mir zu überleben … froh dich gekannt zu haben.“
Danach schloss Edward seine Augen, während die Prinzessin die Hand des Jungen fest umklammert hielt und weinte. Edwards Atem wurde nach und nach schwächer und ungleichmäßiger, bis er schließlich komplett erstarb. Das Mädchen spürte, wie die Hand Edwards in ihrer Hand erschlaffte. Sie fing an laut zu Schluchzen und ihr wurde immer mehr Bewusst, was sie in den letzten Stunden alles verloren hatte. Alle Menschen die sie gekannt und geliebt hatte waren in nur wenigen Augenblicken verschwunden. Ihre Heimat war zerstört, sie war Allein, wusste nicht wohin sie sich wenden sollte und kannte die Welt außerhalb der Schlossmauern nur aus Büchern und Erzählungen.
Sie weinte so lange, bis sie schließlich vor Erschöpfung, über dem leblosen Körper des letzten Menschen gebeugt, der ihr noch ein kleines bisschen Halt geboten hatte, einschlief.


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