Hunger

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Lyn lief immer weiter, obwohl sie nicht wusste wohin ihre Füße sie trugen, doch das machte ihr im Moment keine Sorgen. Sie wusste, dass sie so viel Abstand wie möglich zwischen sich und die Hütte bringen musste, um das Risiko zu vermindern, dass die Jäger sie fanden. Irgendwann musste das Mädchen inne halten. Nachdem sie den ganzen Weg gerannt war, raste ihr Herz und sie hatte das Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.
Sie setzte sich auf den Boden und lehnte sich an einen großen Stein, um zu verschnaufen. In diesem Moment hörte sie in der Ferne ein leises Plätschern, das von einem Bach stammen musste. Ihre Kehle fühlte sich durch den langen Lauf wie ausgetrocknet an. Durstig rappelte sie sich auf und folgte dem Geräusch. Kurz darauf befand sie sich am Rande eines kleinen Bachs, von dem sie gierig trank. Erst jetzt viel ihr auf, wie lange sie nicht mehr mit Wasser in Berührung gekommen war und so versuchte sie die Kälte des Wassers zu ignorieren und wusch sich.(!)
Auch ihr einst so edles und schönes grünes Kleid, das nun voller Dreck war und an vielen Stellen zerrissen war versuchte sie bestmöglich in dem Bach zu reinigen.
Als sie fertig war und sich wieder angezogen hatte, setzte sie sich an das Ufer und sah auf ihr Spiegelbild hinab. Sie sah ein Mädchen mit strähnigem Haar, dessen Kleidung nur noch aus Fetzen bestand. Ich brauche dringend etwas anderes zum Anziehen. Mit diesem Kleid bin ich zu auffällig. Jemand könnte erkennen, wie edel es einst gewesen ist, oder mich für eine Ausgestoßene halten. Beides wäre gefährlich für mich. Doch woher soll ich neue Kleidung bekommen. Ich habe kein Geld und bis auf die Kette meiner Mutter allen Schmuck verloren. Ich kann die Kette nicht eintauschen. Sie ist die letzte Erinnerung, die ich an meine Vergangenheit habe und es fühlt sich an, als wäre sie ein Teil von mir. Ich muss mir irgendetwas anderes einfallen lassen.
Nachdem sich das Mädchen noch etwas ausgeruht hatte, beschloss sie ihren Weg fortzusetzen. Doch bevor sie aufbrach, überlegte sie, wohin sie sich nun wenden sollte. Dazu rief sie sich eine Karte des Kontinents in den Kopf, die sie vor langer Zeit einmal studieren hatte müssen, da ihre Eltern dachten, dass es sich für eine Prinzessin gehörte, die Geographie des Lands zu kennen.
Wenn ich richtig liege und etwas Glück habe, müsste dieser Bach irgendwann in den Aratosch münden, welcher vom Raschum Gebirge durch das Reich der Elfen nach Süden fließt und dort in das Meer mündet.
Dem Mädchen erschien es am Vernünftigsten, dem Bach bis zu dem großen Fluss zu folgen und sich dann dort für eine Richtung zu entscheiden. Sie besah sich noch einmal ihr Spiegelbild, riss sich dann kurzerhand einen ohnehin fast abgerissen, dünnen Streifen vom Saum ihres Kleides, band sich die langen, noch nassen Haare zusammen, brummte kurz ihrem Spiegelbild zu, und setze mit neuem Mut ihre Reise fort.

Nach beinahe eineinhalb Tagen, in denen Lyndis dem Bachlauf gefolgt war, erreichte sie einen sehr breiten Fluss. Mit großem Staunen schaute das Mädchen über das Wasser. Nur mit Mühe war das andere Ufer noch zu erkennen. Sie hatte zwar gewusst, dass der Aratosch sehr breit war, doch dies sprengte ihre Vorstellungskraft. Sie zweifelte keinen Moment daran, dass es sich hierbei um den Aratosch handelte, da es in ganz Soleria nur einen weiteren Fluss gab, der sich mit ihm messen konnte. Allerdings verlief dieser weit im Osten und es war praktisch unmöglich, dass sie in so kurzer Zeit so weit gelaufen war.
Sie rastete beinahe einen Tag und überlegt fieberhaft, in welche Richtung sie weitergehen sollte. Sowohl der Süden, als auch das Reich der Elfen hatten ihre Reize für das Mädchen. Schließlich entschied sie sich für den Süden, da sie schon immer davon geträumt hatte das Meer und die Strände dort zu sehen. Berichte die sie gelesen hatte, erzählten von einem Ort, an dem es niemals kalt wurde, an dem sich traumhafte Strände befanden und an dem exotische Früchte wuchsen. Außerdem war Lyn bewusst, dass sie im Land der Elfen sehr auffallen würde.

Das Mädchen hatte beschlossen nur nachts weiterzuziehen, da auf dem Fluss immer sehr viele Schiffe segelten und sie tagsüber von den Seefahrern leicht zu erspähen wäre. In der Dunkelheit konnte sie sich vor den neugierigen Blicken verbergen und so verhindern, dass sie wieder von vermeintlich hilfsbereiten Menschen aufgelesen wurde.
Lyndis wanderte bis es hell wurde. Als sie zwischen ein paar Bäumen, die vereinzelt am Ufer wuchsen, einen versteckten Platz zum Schlafen gefunden hatte, wurde ihr Schlagartig bewusst, dass sie seit sie die Hütte verlassen hatte keinen Bissen mehr gegessen hatte. Mit einem Mal bekam sie schrecklichen Hunger und ihr Magen fing an zu Knurren. Sie sah sich hilflos um und war hocherfreut, als sie einen Strauch sah, an dem viele rote Beeren wuchsen. Gierig begann sie diese zu Essen und legte sich danach hin um zu schlafen, um nur wenig später mit starken Bauchschmerzen wieder aufzuwachen.

Langsam begann sie sich zu erinnern, dass nicht alle Beeren, die in der Natur wuchsen für den Menschen genießbar waren. Wütend über ihre eigene Unachtsamkeit kauerte sie sich an einen Baum und versuchte die Schmerzen zu ertragen. Sie wusste, dass sie großes Glück hatte, keine Beeren gegessen zu haben, die sie töten hätten können und das sie froh darüber sein konnte nur Bauchschmerzen zu haben.
Obwohl die Schmerzen anhielten, ging Lyndis tapfer weiter, als die Nacht über das Land hereinbrach, fest entschlossen so schnell wie nur möglich den Süden und die dortigen Strände zu erreichen. Für das Mädchen war jeder Schritt eine Qual. Die Schmerzen immer schlimmer und ihr wurde übel. Gegen Mitternacht musste sie sich eingestehen, dass sie nicht mehr weitergehen konnte und dringend eine Pause brauchte. In der Nähe sah sie einen kleinen Wald. Lyn-chan biss die Zähne zusammen und ging weiter, bis sie diesen erreichte. Sie ging noch ein paar Schritte zwischen die Bäume und legte sich dort auf den Boden. Geplagt von den Schmerzen, wälzte sie sich hin und her. Obwohl sie sich mehrmals erbrach, bis nur noch Gallensaft zum Vorschein kam, ließen die Schmerzen nicht nach.
Erst als die Sonne langsam die Dunkelheit vertrieb wurde es leichter, ihr Körper entspannte sich nach und nach. Lyndis konnte in einen lange herbeigesehnten, unruhigen Schlaf fallen.
Sie wachte erst wieder auf, als es bereits begann wieder Dunkel zu werden. Erleichtert stellte sie fest, dass die Schmerzen endlich verschwunden waren. Sie fühlte sich zwar noch immer etwas matt und hatte ein komisches Gefühl im Bauch, doch das schlimmste schien überstanden zu sein. Ihr Magen gab ein lautes Knurren von sich und das Mädchen fühlte sich hungrig. Sie sah sich um und sah einige Beeren, die auf dem Waldboden wuchsen und die sie an Erdbeeren erinnerten. Sie wurde mit einem Schlag wieder an ihr zuhause erinnert und sie fühlte die Tränen, die ihr über die Wangen liefen. Lyndis pflückte eine der Beeren und betrachtete sie traurig. Sie war viel kleiner, als die Erdbeeren, die sie von früher kannte. Lange überlegte sie, ob sie diese Frucht essen solle, doch schlussendlich siegte die Angst, sich erneut zu vergiften, über den Hunger und sie warf die Beere soweit sie konnte in den Wald hinein.
Danach stand sie auf und wischte sich die Tränen aus den Augen. Sie versuchte die Gedanken an ihre Heimat zu verdrängen und ging aus dem Wald hinaus, um weiter dem Aratosch zu folgen.
Immer mehr spürte das Mädchen den Nahrungsmangel. Jeder Schritt fiel ihr schwerer und sie fühlte sich völlig entkräftet. Trotzdem ging sie immer weiter. Nach einigen Stunden wurde sie plötzlich auf etwas am Flussrand aufmerksam. Sie starrte angestrengt auf die Stelle und erkannte ein Schiff, das dort scheinbar vor Anker gegangen war. Das Mädchen schlich vorsichtig näher und versuchte dabei kein Geräusch von sich zu geben. Erstaunt stellte sie fest, dass sich die Seemänner nicht auf ihrem Schiff befanden, sondern am Ufer ein Lager aufgeschlagen hatten. Vorsichtig schlich sie sich noch näher heran und beobachtete es eine Weile sehr genau. Sie zählte zehn Männer, die alle zu schlafen schienen. Die Männer müssen sich wohl völlig sicher fühlen. Weit und breit ist keine Wache zu sehen.
Lyndis Magen knurrte laut, als sie den großen Kochtopf in der Mitte des Lagers sah. Bei genauerem Hinsehen, konnte sie erkennen, dass sich noch etwas Essen in ihm befand. Obwohl sie wusste, wie hoch das Risiko war von einem der Männer entdeckt zu werden, wenn sie sich in das Lager schlich, trieb der Hunger sie voran. Ihr war klar, dass sie ohne etwas zu Essen nicht mehr lange durchhalten würde. Dies war ihre beste Chance nicht zu verhungern.
Langsam und behutsam schlich sie sich an den beiden Seemännern vorbei, die zwischen ihr und dem Topf lagen. Sie spürte, wie ihr Herz zu rasen begann, als sie an dem ersten Mann vorbeipirschte. Sie hatte das Gefühl, als würde es ihr jeden Moment aus der Brust springen. Doch entgegen ihren Befürchtungen, wachte der Mann nicht auf, sondern schlief, ohne etwas zu bemerken, weiter. Lyndis blieb stehen und atmete kurz tief durch, um sich etwas zu entspannen. Schließlich nahm sie all ihren Mut zusammen und schlich weiter. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen. Doch trotz all ihrer Behutsamkeit, ertönte plötzlich ein Knacken, als das Mädchen auf einen Zweig stieg. Sie fuhr voller Schrecken zusammen. Ihr war dieses Geräusch unglaublich laut erschienen und sie war der festen Überzeugung, dass man sie nun entdecken würde, doch der Mann neben ihr gab nur ein leises Grunzen von sich, drehte sich um und schlief weiter.
Das Mädchen spürte wie die Anspannung langsam wieder von ihr abfiel und pirschte sich langsam weiter. Nur noch wenige Schritte trennten sie von dem lange ersehnten Essen, die sie ohne Probleme überwand. Gierig aß sie so schnell sie konnte die Reste des Eintopfs. Zu Lyndis Freude war noch genug Essen in dem Topf, um sie richtig zu sättigen.
Das Fleisch war fettig, die Kartoffeln verkocht, es schmeckte fad und kaum gewürzt. Trotzdem kam es Lyndis vor als wäre es das leckerste Essen, welches sie verspeißt hatte.
Als sie satt war und sich langsam von dem nun leeren Kochtopf entfernet, hörte sie plötzlich eine laute Stimme: „Hey was machst du da?“
Erschrocken fuhr sie zusammen und wirbelte panisch zu der Stimme herum, die zu dem Mann gehörte, an dem sie als erstes vorübergeschlichen war und der sie nun böse anstarrte. Ohne auch nur eine Sekunde nachzudenken rannte Lyndis los. Vorbei an den Männern auf der anderen Seite des kleinen Feuers, die durch die wütenden Schreie ihres Kameraden geweckt wurden, jedoch nicht schnell genug begriffen, was geschehen war. Dadurch gelang es Lyndis aus dem Lager zu entkommen.

Obwohl keiner ihr folgte rannte das Mädchen, bis sie keuchend zusammenbrach. Die Angst, erneut entführt und gefesselt zu werden, ließ sie ihren Körper an das äußerste Limit peitschen. Ihr Herz hämmerte, als würde es jeden Moment aus ihrer Brust springen. Sie fühlte sich wie betäubt durch den Schock. Sie lag mit dem Rücken flach auf den Boden und versuchte ihren Atem wieder zu normalisieren. Für einen Moment hatte sie kurz das Gefühl Ohnmächtig zu werden und sie spürte, wie Panik in ihr hochstieg. Bei jedem Geräusch fuhr sie zusammen. Es dauerte beinahe eine Stunde, bis sie sich langsam wieder beruhigte. Nun bemerkte sie, dass es bereits begonnen hatte hell zu werden.
Lyndis rappelte sich hoch und sah sich um, um einen geschützten Platz zum Schlafen zu finden. Doch nirgendwo, war ein geeigneter Ort zu sehen. An dieser Stelle des Flusses wuchs kein einziger Busch, der sie vor den neugierigen Blicken der Seefahrer schützen hätte können.
Das Mädchen sah sich unruhig um. Plötzlich spürte sie, wie ein Regentropfen auf ihren Kopf fiel. Sie beschloss weiterzugehen, bis sie einen Platz gefunden hatte, an dem sie schlafen konnte.
Der Regen war mittlerweile sehr stark geworden und Lyn war bis auf die Haut durchnässt. Außerdem war ein kalter Wind aufgekommen. Sie zitterte am ganzen Körper, da die Kälte immer mehr von ihr Besitz ergriff. Die Arme schützend vor dem Körper verschränkt, kämpfte sich das Mädchen Schritt für Schritt weiter. Ihr Ziel war eine kleine Hügelgruppe, die sie vor etwa einer Stunde erspäht hatte. Sie hoffte dort etwas Schutz zu finden.
Nach einer weiteren Stunde erreichte sie endlich den ersten der Hügel und sah sich um. Als sie in einem der Hügel eine Höhle entdeckte, machte ihr Herz vor Freude einen Sprung. Nicht nur, dass sie einen Platz gefunden hatte, der sie vor neugierigen Blicken schützen würde, in der Höhle war sie auch vor Wind und Regen sicher und mit etwas Glück, würde es ihr sogar gelingen, sich wieder etwas aufzuwärmen.
So schnell sie konnte stieg sie zum Eingang der Höhle hinauf, die größer war, als sie von außen gewirkt hatte. Lyndis folgte dem Gang, der tief unter die Erde zu führen schien. Sie spürte, wie sich mit jedem Schritt, den sie tiefer unter die Erde machte, das beklemmende Gefühl, das sie schon beim Betreten der Höhle gespürt hatte, verstärkte. Doch trotzdem stieg sie immer tiefer hinab. Irgendwann machte der Tunnel einen Knick. Lyndis ging langsam herum und war überrascht, als sie sich in einem relativ großen Gewölbe wiederfand. Die Decke wurde von Säulen gestützt, die durch Runen verziert waren. In der Mitte der Halle brannte ein Feuer, an dem ein alter Mann saß, dessen Gesicht zum Teil von einem langen grauen Bart verdeckt wurde.
Entsetzt starrte das Mädchen den Mann an. Sie hatte nicht damit gerechnet an diesem Ort auf einen anderen Menschen zu stoßen. Beinahe fünf Minuten stand sie unfähig sich zu bewegen da und konnte den Blick nicht von dem Feuer abwenden, doch schließlich begann sie, aus Angst erneut in Gefahr zu geraten, langsam zurückzuweichen. Gerade als sie sich wieder sicher zu fühlen begann, hörte sie die Stimme des alten Mannes:
„Keine Angst junge Prinzessin Lutriels, von mir geht keinerlei Gefahr aus. Du musst sicherlich müde, hungrig und durchgefroren sein, also komm doch bitte an mein Feuer.“

DrachenseeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt