Bestimmung

3 0 0
                                    

Lyndis fing an zu zittern. Woher kann er wissen wer ich bin? Er kann mich doch noch nicht einmal gesehen haben, schließlich sitzt er mit dem Rücken zu mir. Er dürfte nicht einmal wissen dass ich hier bin. Verwirrt fragte sie mit zitternder Stimme: „Woher wisst ihr wer ich bin?“
„Ich weiß vieles, was anderen verborgen bleibt. Deine Ankunft hier spüre ich bereits seit Tagen“, antwortete der Mann völlig ruhig.
„Ich verstehe kein Wort. Woher wollt ihr gewusst haben, dass ich hierherkommen würde? Ich wusste bis vor einer Stunde nicht einmal, dass dieser Ort existiert.“
Der Greis stand auf und drehte sich zu ihr um. Lyndis erschrak, als sie die matten Augen des Mannes sah, die keinen Zweifel daran ließen, dass er blind war.
„Mädchen komm an mein Feuer, bevor du dich noch erkältest. Lass dir von einem alten Mann helfen dein Schicksal zu erfüllen.“
„Von welchen Schicksal sprecht ihr?“ fragte das Mädchen, dass mittlerweile überhaupt nicht mehr verstand was vor sich ging.
„Mit Sicherheit kann ich dir diese Frage nicht beantworten. Ich spüre, dass du noch von Belang sein könntest und dass es meine Aufgabe ist, dich zum Orden zu bringen. Aber es ist mir nicht bestimmt, dir dein Schicksal zu prophezeien.“
Lyndis verstand nichts, was der Mann von sich gab, jedoch hatte er sie neugierig gemacht und so ging sie zu dem Feuer hinüber. Sie verspürte ein angenehmes Gefühl, als sie die Wärme der Flammen auf ihrer Haut spürte.
Der blinde Mann setzte sich ihr gegenüber hin. Das Mädchen hatte das Gefühl von dem Greis durch die Flammen hindurch angestarrt zu werden, auch wenn sie wusste, dass dies unmöglich war. Sie begann unruhig hin und her zu rutschen und wartete angespannt, dass der alte Mann endlich etwas sagte.
Nach ein paar Minuten, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen, stand er auf und ging durch die Höhle. Er kam mit einem Rucksack zurück, aus dem er einen Laib Brot, ein Stück Käse und getrocknetes Fleisch holte. Er gab dem Mädchen beinahe den ganzen Proviant und behielt sich selbst nur ein kleines Stück Brot, an dem er langsam knabberte. Lyn bedankte sich und stopfte das Essen gierig in sich hinein.
Schließlich fing der alte Mann an zu reden: „Wir befinden uns hier in einem uralten Bauwerk der Zwerge. Findest du es nicht auch erstaunlich, dass der Prunk aus einstigen Tagen noch immer zu erkennen ist, obwohl hier seit hunderten Jahren kein Zwerg mehr gewesen ist? Es stimmt wohl, dass die Bauwerke der Zwerge nur mit Gewalt zerstört werden können.“
Das Mädchen fragte sich, warum der Greis ihr dies erzählte, doch sie sah sich nun aufmerksam um. Die Säulen waren nicht das einzige, was noch von der alten Form der Halle zu erkennen war, auch die Decke war mit wunderschönen Mustern versehen. Die Wände hingegen waren mit Steinen in den unterschiedlichsten Farben und Schattierungen geschmückt. Die Lust am Schaffen und der Ehrgeiz an der Kunst war in jedem Stückchen Stein zu erkennen.
Lyn fragte nun: „Verzeiht meine Frage, aber ihr seid offensichtlich blind, wie könnt ihr Wissen, wie es hier aussieht?“
Der Alte lachte leise und antwortete: „Es gibt viele Arten zu sehen, meine Liebe. Die Sehkraft der Augen ist nichts im Vergleich zu dem, was ich zu erkennen mag.“
Das Mädchen verstand die Worte des alten Mannes nicht. Es erschien ihr unmöglich ohne Augen etwas sehen zu können. Nach einer Weile beschloss sie den alten Mann zu einem anderem Thema zu befragen: „Ihr sagtet zuvor, dass ihr mich zu eurem Orden bringen wollt. Was genau soll ich dort?“
„Du sollst lernen ohne fremde Hilfe zu überleben und dich deiner Haut zu erwehren.“
Lyn überlegte eine Weile und flüsterte dann: „Ich verstehe nicht, warum ihr ausgerechnet mich ausbilden wollt, aber ich muss zugeben, dass sich dieses Angebot sehr verlockend anhört. Allerdings, warum sollte ich euch vertrauen?“
„Fürwahr, in der letzten Zeit hat das kleine Mädchen viele Schrecken erlebt und das Vertrauen in die Menschen verloren, doch was sollte ein alter, blinder Mann, wie ich es bin, euch schon anhaben können, meine Liebe?“
Lyndis musterte den Greis skeptisch. Der Alte hatte bereits mehr als einmal bewiesen, dass er keineswegs so hilflos war, wie er aussah, jedoch war dem Mädchen auch bewusst, dass sie nichts mehr zu verlieren hatte. Wenn sie weiter auf sich alleine gestellt durch die Welt reiste, würde sie sicherlich nicht mehr lange überleben. Entweder würde sie verhungern, sich schlimmer vergiften, als das letzte Mal, als sie Beeren gegessen hatte, oder sie würde von einem wilden Tier gefressen werden. Das sie überhaupt solange in der Wildnis überlebt hatte, glich einen Wunder.
Bevor sie dem alten Mann eine Antwort geben konnte verkündete dieser: „Bis morgen hast du Zeit dich zu entscheiden. Nun will ich erst mal Ruhen und dasselbe würde ich auch dir empfehlen.“
Damit stand er auf und ging zu seinem kleinen, provisorischen Lager, indem ein paar Decken ausgebreitet waren. Dort legte er sich hin und schlief augenblicklich ein.
Das Mädchen rutschte so nah sie es wagte ans Feuer heran und streckte sich auf den kalten, harten Boden aus. Sie konnte nicht einschlafen. Ihre Kleider waren immer noch nass und die Kälte wollte nicht aus ihren Gliedern weichen. Selbst die Flammen schienen wirkungslos zu sein. Lange wälzte sie sich hin und her, bevor sie endlich in einen von Alpträumen geplagten Schlaf fiel. Wie schon so oft zuvor, erlebte sie den letzten Tag den sie im Schloss von Lutriel verbracht hatte erneut.
- Vielleicht nimmt sie sich noch ganz selbstbewusst eine Decke?
Mit einem Schrei wachte sie auf. Ihr Körper war schweißgebadet und ihr Gesicht von Tränen überströmt. Sie setzte sich auf und starrte in das Feuer, das zu ihrer Verwunderung immer noch brannte. Die Wärme der Flammen fühlte sich gut auf ihrer Haut an und die ungleichmäßigen Bewegungen des Feuers beruhigten sie. Lange saß sie da und verlor, vertieft in den Anblick des Feuers, jedes Zeitgefühl. Erst als sie die Stimme des Alten hörte, erwachte sie aus dem Bann: „Das Feuer hat schon etwas Faszinierendes an sich, nicht wahr, Mädchen. Es kann uns mit seiner Wärme Trost schenken, es schützt uns davor in den kalten Nächten zu erfrieren, es hält uns die Dunkelheit fern und dennoch ist es in der Lage alles um uns zu zerstören und uns unser Leben zu nehmen. Nun, ihr seid sicher hungrig.“
Er überreicht, dem durch seine Worte nachdenklich gewordenen Mädchen, Brot und ein hartgekochtes Ei und fragte anschließend: „Wie habt ihr euch entschieden, junge Prinzessin?“
Lyn zögerte einen kurzen Moment und antwortete schließlich: „Ich würde euch gerne zu eurem Orden begleiten und mir ansehen, was mich dort erwartet.“
„Das freut mich zu hören. Wir brechen zur Mittagsstunde auf. Hier ich will, dass du dies immer bei dir trägst, solange wir unterwegs sind“, antwortete der Mann mit einem Lächeln und hielt ihr einen Dolch hin.
Das Mädchen zögerte, bevor sie die Hand nach der Waffe ausstreckte. Noch nie zuvor hatte sie eine Klinge in der Hand gehabt.
„Was soll ich mit dem Dolch? Ich weiß doch nicht, wie ich damit umgehen soll“, knurrte sie missmutig.
Der alte Mann nickte und meinte: „Auch wenn du nicht damit umzugehen weist, kannst du dich damit besser verteidigen, als ohne ihn.“
Lyn starrte den Dolch in ihren Händen missmutig an, doch die Worte des Alten ergaben Sinn und so beschloss sie die Waffe fürs Erste zu behalten.

DrachenseeleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt