𝒵𝑒𝓇𝑜

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At the end of the day, it isn't where i came from.
Maybe home is somewhere I'm going and never have been before...
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- Warsan Shire

𝙷𝚊𝚠𝚔𝚒𝚗𝚜, 𝙸𝚗𝚍𝚒𝚊𝚗𝚊: 𝙾𝚌𝚝𝚘𝚋𝚎𝚛 𝟷𝟿𝟾𝟺

Alles begann mit dem unheilvollen Dröhnen des Mustangs, das schon von weitem wie ein Echo durch die Straßen der Kleinstadt hallte. Der Bass des orangen Wagens war tief und melodisch, als er beinahe schon selbstmörderisch schnell das „Willkommen in Hawkins"-Schild passierte. Es war ein extravagantes Auto, die Farbe, ein leuchtendes Apricot, hob den exquisiten Geschmack des Besitzers nur noch deutlicher hervor. Wenige Minuten später folgte ein rostiger Pickup, dessen Ladefläche mit Möbeln vollgestellt worden war. Beide Wägen fuhren im Konvoi zielstrebig durch die engen Straßen bis zum äußeren Stadtrand. Je weiter sie kamen, desto heruntergekommener wurden die Häuser und abgeplatzter die Fassaden. Langsam lüftete sich der idyllische Schleier und bei genauerem Hinsehen, sah man die Schattenseiten dieses Ortes. Auch die deplatziert wirkenden Stiefmütterchen, deren groteske Farbpracht im Kontrast zu den schmutzigen Häusern standen, konnten es nicht verstecken. Keine Stadt, egal wie perfekt sie wirken mochte, war gefeilt gegen Armut und soziale Missstände.

Hawkins war beschaulich und ruhig, eine Stadt in der sich Fuchs und Hase „gute Nacht" sagten. Und eben weil die Stadt in Indiana so alteingesessen wir ihre Bewohner war, entging niemandem das Spektakel der Neuzugänge. Obwohl es später Abend und noch dazu Sonntag war, erschienen nach und nach die bleichen Gesichter der umliegenden Nachbarn an den, mit Gardinen verhangenen, Fenstern. Es wurde zu den Telefonen gegriffen, während sich in rasender Geschwindigkeit Gerüchte über die Fremden ausbreiteten. Man munkelte über einen reichen Staatsmann, der nach Hawkins gekommen war um dort Inkognito seinen Lebensabend zu verbringen. Wieder andere erzählten von einem Szenario, dass der Geschichte von Bonny und Clyde Konkurrenz machte. Bevor die erste Kiste vom Pickup gehoben und ins Haus getragen war, wusste bereits jeder in Hawkins um wen es sich bei dem Mann und der jungen Frau handelte. Doch dies war kein Anlass das brodeln der Gerüchteküche zu unterbinden, sondern fachte das Feuer unter dem Kessel der Unwahrheiten nur noch mehr an.

Montage waren etwas, worauf Aspen gut hätte verzichten können. Vor allem wenn sie an einer neuen Schule stattfanden, an der sie die Hauptrolle in ihrem ganz persönlichen Drama spielen würde. Schnaubend warf sie einen Blick auf die vielen Kartons, die sich unberührt in ihrem kleinen Zimmer stapelten. Aspen hatte sich konditioniert alles an Hawkins zu hassen. Sie hasste dieses Zimmer, die gutgekleideten Familienmütter mit ihren falschen Zungen und die patriotischen Väter, die Menschen für ihre Andersartigkeit hassten. Es mochte pathetisch wirken Menschen in Schubladen einzuteilen, aber Hawkins war nicht mehr, als eine einzige, große Ansammlung des amerikanischen Stereotyps. „The American Dream" war hier kein Traum, sondern bittere Realität. In diesem kleinen Ort in Indiana konnte man alles sein, solange es innerhalb der Schublade war.

Die Hawkins High School war ein flaches Backsteingebäude im Zentrum der friedlichen Kleinstadt. Sie fügte sich nahtlos in das Stadtbild ein, ebenso wie die Schüler, welche sie besuchten. Ein bitteres Lächeln umspielte Aspens Lippen, schließlich war es nicht lange her, dass sie ebenso zu den Statisten dieses Theaters gehört hatte. Während sie mit dem Gedanken liebäugelte einfach das Lenkrad herum zu reißen und dieses verdammte Loch endgültig hinter sich zu lassen, fuhr sie bereits mit quietschenden Reifen auf dem Parkplatz vor. Neugierige Blicke folgten den verchromten Felgen und den geschwungenen Kotflügeln. Hinter den getönten Scheiben wummerte der Bass eines Rockliedes in einer trommelfellzerreißenden Lautstärke. Aspen sah wie sich einige der Mädchen nervös durch die gestylten Haare fuhren, hier und da zupfte man die in oder andere modische Blusen mit Stehkragen zu Recht. Bei dem Gedanken daran, wie sehr es dem eigentlichen Besitzer dieses Mustangs zugesagt hätte, verspürte sie einen Stich.

Aspen parkte den Wagen ein gutes Stück abseits der anderen Vehikel und des lärmenden Schülertreibens, um noch einige Momente der Ruhe zu genießen. Prüfend wanderte ihr Blick in den Rückspiegel. Unter ihren Augen lagen tiefe Schatten, ihre Haut war blass und die Sommersprossen auf ihrem Nasenrücken stachen grell hervor. Der dicke rußschwarze Liedstrich verlieh ihren Augen zusammen mit dem mitternachtsblauen Lidschatten etwas Unergründliches. Ihre dunkel geschminkten Lippen verzogen sich zu einem höhnischen Schmunzeln, während Aspen den Rest ihrer Gefühle in die letzte Ecke ihres Bewusstseins sperrte. Seufzend griff sie nach der Sonnenbrille mit den runden Gläsern, die verheißungsvoll auf dem Armaturenbrett thronte und schob sie sich auf den schmalen Nasenrücken. Dann öffnete sie die Tür und ergab sich der Tortur, die hinter der weißen Doppeltüre auf sie warten würde.

(741 Wörter)

𝙸𝚗 𝚖𝚢 𝚕𝚊𝚜𝚝 𝚕𝚒𝚏𝚎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt