𝒯𝓌𝑜

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You learned to run from what you feel, and that's why you have nightmares. To deny is to invite madness. To accept is to control.
-Megan Chance

𝙷𝚊𝚠𝚔𝚒𝚗𝚜, 𝙸𝚗𝚍𝚒𝚊𝚗𝚊: 𝙾𝚌𝚝𝚘𝚋𝚎𝚛 𝟷𝟿𝟾𝟺

Die Tankstelle war hell erleuchtet, als Aspen vorfuhr. Auf dem Beifahrersitz lag ein Kuvert mit hundert Dollar darin, die sie eigentlich für die Benzinkosten gespart hatte. Wehleidig sah sie auf das weiße Papier hinab, bevor sie danach griff und ausstieg. Die Luft war spätsommerlich warm, obwohl es bereits nach Herbst roch. Eine angenehme Brise trug einige bunte Blätter in ihre Richtung, als Aspen die Glastür aufstieß. Hinter der Kasse stand ein Junge etwas älter als sie selbst. Sein Gesicht war pausbäckig und voller Akne-Narben. Als er Aspen anlächelte wurde sein Gesicht beinahe schlagartig feuerrot, während er eine kompliziert aussehende Zahnspange präsentierte. Seine Augen schienen an ihrem Ausschnitt festzukleben, während sie sich auf ihn zu bewegte. 

„Hey. Kann man bei euch Briefmarken kaufen?", Aspen lächelte gequält und zog die dünne Stoffjacke, die sie vor Verlassen des Hauses übergeworfen hatte, enger um sich. 

Eddy, so stand es zumindest auf dem kleinen Plastikschild an seiner Brust, kratzte sich unwissend am Hinterkopf: „Muss ich mal nachschauen. Die meisten kaufen sie bei der Post."

Er sag auf die Uhr „Aber die hat um diese Uhrzeit zu.". Er wandte sich zu einer schweren Stahltür um, auf der in großen roten Lettern Privat/Lager stand. 

„Lauf nicht weg.", der Teenager fuhr sich durch die leicht fettigen Haare.

Seufzend verdrehte das Mädchen die Augen, bevor sie sich dem Tankstellensortiment zuwandte. Aspen lief an Poprocks, Chilli Cheese Natchos und Flaming Hot Cheetos vorbei, bis sie etwas fand, dass ihr Interesse erweckte. In einem der hinteren Regale lagen zwei verwaiste „Triple-Salted-Caramel-Bars". Die knisternde Verpackung war in allen erdenklichen Neonfarben gestaltet. Im inneren befand sich der liebste Schoko-Karamell-Riegel ihrer Kindheit, den wohl jeder Zahnarzt wegen akuter Kariesgefahr am liebsten aus jedem Sortiment verbannt hätte. 

„Du magst dieses widerliche Zeug doch nicht immer noch?". Jonathans Stimme ließ sie hefig zusammenzucken und die Süßigkeit glitt aus ihren Fingern. 

Sie hatte die Glocke über der Eingangstür gar nicht gehört. Für einen Augenblick, der sich anfühlte wie eine Ewigkeit, verlor Aspen den Boden unter den Füßen. Nicht wirklich, aber in ihrem Kopf schien sie zu fallen. 

Sie fiel und fiel, ohne dass der Boden überhaupt in Sicht kam: „Keine Ahnung ich hab lange keine mehr gekauft.".

Genauso lange wie sie fort gewesen war. Denn jedes Mal, wenn sie eine der farbenfrohen Verpackungen irgendwo gesehen hatte, hätte es sich falsch angefühlt eine zu kaufen. Es war ihr gemeinsames Ding, als sie drei noch wie Pech und Schwefel zusammen gestanden hatten. Aspen schüttelte den Kopf, als könnte sie damit die Gedanken loswerden. Den Jungen hinter sich ignorierend stapfte die Sechzehnjährige anschließend zurück zur Kasse, von der aus Eddy ihr mit einer Briefmarke zuwinkte, als wäre es der Pompon eines Cheerleaders. 

Nachdem sie die Adresse des zuständigen Amtes auf den Umschlag gekritzelt und ihn frankiert hatte, Jonathans Präsenz mehr als deutlich hinter ihr, wandte sie sich wieder an den Verkäufer: „Und zwei Schachtel Lucky Strikes, ohne Filter.".

 „Aber du bist doch sicher noch nicht einundzwanzig?", Eddy zog die ungezupften Augenbrauen zusammen. 

Aspen wusste nicht, ob sie es tat, weil Jonathan mit im Raum war, oder weil sie einfach keine Lust auf Probleme hatte. Aber sie ließ ihre Jacke von einer Schulter rutschen und lächelte Eddy lasziv an: „Für dich bin ich, wer du willst.". 

Sie fühlte sich schmutzig, als die Worte ihren Mund verließen und sie sich so offensichtlich darbot, aber das war wer sie inzwischen war. Sie tat alles, um das zu bekommen, was sie wollte.

Sie verfluchte sich dafür, ihn etwas abseits geparkt zu haben, während sie auf ihr Auto zusteuerte und Jonathans Schritte hinter sich hörte. 

„Ich dachte du findest rauchen widerlich?", er wurde schneller und sie konnte bereits den vertrauten Geruch seines herben Aftershaves schmecken, das er benutzte, seit ihm das erste Barthaar gewachsen war. 

Frustriert kniff Aspen die Augen zusammen, der bittere Geschmack auf ihrer Zunge formte sich zu einem festen Kloß in ihrem Rachen: „Ich wüsste nicht was dich das angeht.". 

Endlich erreichte sie den Wagen, an dessen Rahmen sie sich klammerte wie an eine rettende Insel. 

„Und wieso läufst du vor mir davon?", erst da sah sie ihn an. 

Es war bereits dunkel, die nächste Straßenlaterne stand gut Zehn Meter entfernt, aber sie konnte ihn klar und deutlich sehen. Er war gewachsen und überragte sie nun mühelos. Seine Gesichtszüge waren markanter geworden, seine Miene ausdrucksstärker. 

Nur seine Augen waren immer noch so hinreißend braun wie beim letzten Mal, als ihre Blicke sich im Seitenspiegel des davon rasenden Autos getroffen hatten: „Darin war ich doch schon immer gut.". 

Jonathan fixierte sie: „Und wirst du wieder abhauen?". „Ja. Und dann komm ich nie wieder hier her zurück.", während sie sprach öffnete Aspen die Fahrertür des Mustangs, die sie mit Beenden des Satzes hinter sich zuzog. Das aufheulen des Motors verdrängte ihre wirren Gedanken, als sie Jonathan Byers mutterseelenallein auf der Hauptstraße stehen ließ.

Nachdem Aspen die Rechnungen für den Strom bezahlt hatte, wäre sie am liebsten in ihr Bett gefallen. Ein Blick auf ihre Armbanduhr verriet ihr, dass es inzwischen auf Mitternacht zuging. Allerdings erwartete ihr Vater sie, der gerade versuchte das Schloss zu treffen, als die Schülerin hinter dem Haus hervorkam. 

„Oh. Aspen-Schatz!", verlegen fuhr er sich durch die dichten braunen Haare, die bereits von grauen Strähnen durchzogen waren, während er weiter mit dem Schlüssel herum stocherte „Solltest du nicht schon längst im Bett sein?". 

Die Angesprochene zuckte mit den Schultern, bevor sie ihren Vater zur Seite schob um die Tür zu öffnen. 

Anstatt zu bemerken, dass die Elektrizität nicht funktionierte und Aspen ihnen den Weg mit einer Taschenlampe erhellte, taumelte Peter Bishop in die Küche: „Möchtest du etwas essen? Ich könnte dir Bolognese machen.". 

Aspen schnaubte, unterließ es aber ihn darauf hinzuweisen, dass sie seit Jahren kein Fleisch mehr aß und wimmelte ihn stattdessen damit ab, keinen Hunger zu haben. Erschöpft schlurfte sie anschließend die schmale Treppe hinauf, die in das Obergeschoss führte.

Flammen. Hitze. Rauch. Diese drei Dinge schienen den Moment zu beherrschen, ihn zu verschlingen. Überall tanzte das Rot bizarre Gestalten formend über die Wände, während sie sich gegen den Ruß wehrte, der versuchte in ihre Lunge zu kriechen. Aspen hustete, während ihr die Hitze ins Gesicht schlug und sie die Augen zusammenkneifen ließ. Die Flammen, groß und wild, züngelten an ihr empor wie wütende Schlagen. Alle Wege waren versperrt. Es gab kein Entkommen vor der beißenden Hitze, die über ihre Haut leckte, als wolle sie sie auffressen. Ihre Stimme war zu schwach um zu schreien, Rauch drang in ihre Lunge. Sie wusste, dass sie sterben würde. Inzwischen war alles schwarz und rot und gelb. Das Holz knarzte unter der bald nicht mehr tragbaren Last, es schrie genauso um Hilfe wie Aspen es tat. Mit Tränen in den Augen fiel sie auf die Knie, während sie sich die Hand auf den Mund presste. Sie wurde von einem Hustenanfall geschüttelt. Dann verlor ihr Körper jegliche Spannung und sie sackte nach vorne. Hart kollidierte ihr Kopf mit dem Parkettboden, das dumpfe Pochen in ihrem Schädel schwoll an und wurde zu einem Dröhnen und Klingeln in ihren Ohren. Schemenhaft sah sie die verkohlten Umrisse ihres Zimmers. Neben dem Bett auf dem Boden lag ihr Lieblingsstofftier. Ein flauschiges Nussbraunes Kaninchen namens Klopfer. Verzweifelt streckte Aspen ihre Hand danach aus, ihre Fingerspitzen streiften gerade eines der Ohren, als jemand sie hoch riss.

Schweißgebadet öffnete Aspen die Augen, beinahe glaubte sie noch den roten Schimmer von Flammen zu sehen. Doch ihr Zimmer war leer. Nur Kartons und leere Bücherregale. Auf dem Nachttisch rückte der Zeiger des Weckers auf zehn vor vier. Das ganze Haus war still, nur vor dem Fenster hörte man das leise Rufen eines einsamen Uhus. Ihr Mund war trocken, als hätte sie seit Wochen keinen Schluck Wasser mehr getrunken. Keuchend setzte Aspen sich auf, ihre Augen wanderten fieberhaft durch die Dunkelheit ihres Zimmers. Es war alles gut, versuchte sie sich einzureden, während ihre Finger unbewusst zu den verheilten Narben wanderten.

(1307 Wörter)

𝙸𝚗 𝚖𝚢 𝚕𝚊𝚜𝚝 𝚕𝚒𝚏𝚎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt