𝒯𝒽𝓇𝑒𝑒

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There is no greater agony than bearing an untold story inside you.
-Maya Angelou

𝙷𝚊𝚠𝚔𝚒𝚗𝚜, 𝙸𝚗𝚍𝚒𝚊𝚗𝚊: 𝙽𝚘𝚟𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛 𝟷𝟿𝟾𝟺

Mit leerem Blick starrt Aspen die Uhr an der Küchenwand an, während der Zeiger langsam auf sechs Uhr zu schlich. Die Kaffeetasse in ihrer Hand war bereits seit mehr als einer halben Stunde leer und inzwischen so eiskalt, das sie sich fühlte, als umklammere sie die Hand eines Toten. Vollkommen regungslos beobachtete sie die Vögel vor dem Fenster, die höhnisch pfiffen und einen fröhlichen Tag verkündeten. Der Teller vor Aspen war unberührt, beinahe schon steril weiß. Früher wäre es beinahe undenkbar für sie gewesen nichts zu essen. Ihre Mutter hatte sie kleine Raupe Nimmersatt genannt. Jonathan und Alex hatten sie oft genug damit aufgezogen. Alex und Jonathan. Unaufhörlich kreisen Aspens Gedanken um ihren älteren Bruder und die Begegnung mit Jonathan vor einer Woche. Erst als die Uhr tickend auf die volle Stunde vorrückt erhob sich das Mädchen schwerfällig. Die Nacht war kurz und anstrengend gewesen, der Traum hatte sämtliche Energie aus ihr gezogen, sodass sie sich nun fühlte wie eine zerplatze Kaugummiblase. Und der Tag versprach kaum besser zu werden.

Auf dem Weg zur Haustür sammelte sie ihre Tasche ein und warf anschließend noch einen letzten Blick in den Spiegel. Ihre Haare waren zerwühlt, sie hatte die Bürste in all den Kisten nicht finden können. Die Schatten unter ihren leblosen Augen wirkten beinahe Violett, davon konnte nicht einmal der dicke Liedstrich ablenken. Eine lebende Leiche starrte ihr müde aus dem kleinen Spiegel entgegen. Leider ein Anblick, der inzwischen beinahe zu ihrer Morgenroutine gehörte. 

„Aspen?!", wie ein drohendes Donnergrollen erhob sich im selben Augenblick die Stimme ihres Vaters aus dem angrenzenden Wohnzimmer, wo er die Nacht über auf dem Sofa gelegen hatte.

 Der Fernseher war noch eingeschaltet, inzwischen lief irgendeine dämliche Soap Opera und das falsche Lachen von hellen Frauenstimmen erfüllte das Haus. So leise wie möglich griff Aspen nach ihrem Schlüsselbund, bevor sie auf Zehenspitzen die Tür öffnete und aus dem Haus huschte. Solange ihr Vater genug Promille im Blut hatte war er beinahe so wie vor ihrer Flucht aus Hawkins. Aber wenn der Rausch nachließ, wahrscheinlich wenn seine Erinnerungen zurückkamen, war von dem liebenden Familienvater nicht mehr viel übrig. Seine Laune war auf dem Tiefpunkt und das junge Mädchen konnte sich sichtlich schöneres vorstellen, als diese zu ertragen. Mit leisen Schritten marschierte sie hinüber zu ihrem Auto, auf dessen Motorhaube sich eine Schicht Raureif gebildet hatte.

In der Nacht war es kalt geworden. So winterlich, dass die Bäume und Sträucher am Straßenrand von einer milchigen Eisschicht überzogen waren, als wäre es Zuckerguss. Aspen hatte die Heizung des Wagens aufgedreht, um den ersten wirklich frostigen Tag im November gebührend willkommen zu heißen. Aus dem Autoradio schmetterte Pink Floyd „Another Brick in the Wall" und sie konnte es sich nicht nehmen lassenvden kontroversen Text mitzusingen. Obwohl Aspen die Straßen von Hawkins seit Ewigkeiten nicht befahren hatte, so fühlte es sich an, als wäre sie nie fort gewesen. Früher war sie zwar immer nur der „Copilot" gewesen, doch trotzdem hätte sie den Weg auch mit verbundenen Augen gefunden. Beinahe von selbst lenkte die junge Frau den Wagen auf einen schmalen Seitenweg, der direkt zum alten Steinbruch der Settler Company führte. Hier hinten, abseits vom Kleinstadtleben, standen auch ein paar einsame Häuser. Jonathan wohnt hier ganz in der Nähe, schoss es ihr unwillkürlich durch den Kopf, während sie den Wald verließ und auf ein flaches Stück Kiesstrand zufuhr. Das Wasser, welches den Steinbruch inzwischen überspült hatte, war klar und schimmerte im aufgehenden Sonnenlicht Türkis. Rings herum erhoben sich mächtige graue Felsen, als wollten sie der Naturgewalt des Wassers trotzen. Hier war es ruhig, fast totenstill. Ihr Atem klang störend und laut in dieser idyllischen Umgebung. Der Kies knirschte unter ihren Sohlen, als sie sich dem Rand des Wassers näherte. Wie oft sie früher hier gewesen waren. Kaum, dass der Sommer Einzug in Hawkins gehalten hatte und die ersten wärmenden Sonnenstrahlen sich hernieder senkten, da hatten sich Alex, Jonathan und sie schon auf den Weg gemacht. Bilder von damals wurden von ihrem Unterbewusstsein hervorgeholt, als wolle ihr eigener Geist sie verhöhnen. Ihre Brust stach beim Gedanken an diese Zeiten. Fest ballte sie ihre Hände zu Fäusten, bis sich ihre Fingernägel schmerzhaft in ihre Innenflächen bohrten. Wenn Alex sie jetzt sehen könnte, würde er sie vermutlich auslachen. Kopfschüttelnd machte Aspen auf dem Absatz kehrt. Irgendwie hatte sie sich das alles hier leichter vorgestellt. Mit weniger Wiedersehen und eindeutig weniger Schuldgefühlen. Aber wie sooft hatte sie sich geirrt.

Nur war sie den Weg nicht gekommen um dann einen Zwiespalt mit sich selbst zu führen, also beförderte sie ein Notizbuch zu Tage, den sie kurz darauf mit einem Kugelschreiber ergänzte. Im Schneidersitz machte sie es sich anschließend auf der Motorhaube des Mustangs bequem. Es dauerte nicht lange, da flog die Spitze des Stiftes über das feste Papier. Meistens fiel es ihr leichter Dinge aufzuschreiben, anstatt sie auszusprechen. Wenn sie ihre Gefühle in schöne Wörter und bedeutungslose Floskeln verpackte, dann fühlte es sich weniger real an. Dann schrieb sie über jemand anderen, jemanden, den sie nicht kannte. Als die Luft wärmer und das Licht heller wurde sah sie auf die klobige Uhr an ihrem Handgelenk. Sie hatte die Zeit ganz vergessen, war in ihrer eigenen kleinen Welt versunken. Während sie sich selbst das Versprechen abnahm wieder öfter den Weg hier raus zu finden, beeilte sie sich einzusteigen.

„Und dann sind wie raus nach Indianapolis gefahren. Auf den Parkplatz am Blue River. Abby, ich sag es dir, kein Typ hat mich jemals so lang und geil ge....", bevor Carol weitere schaurige und zu Aspens Leidwesen sehr detaillierte Geschichten über ihre sexuellen Erfahrungen mit Tommy H preisgeben konnte, räusperte Aspen sich hörbar. 

Augenblicklich bombardierte Carol sie mit geringschätzigen Blicken, Abigail Spencer ließ entrüstet ihre Kaugummiblase platzen und Melody, die dritte im Bunde, schnappte wie ein Goldfisch nach Luft. Aspen fühlte sich, als habe sie gerade Osteransprache des Papstes und nicht das belanglose Gelaber dieser dummen Pute unterbrochen. Sie saßen in einem der zahlreichen Biologiefachräume und warteten mehr oder weniger gespannte auf den erlösenden Gongschlag. Es war die letzte von insgesamt acht Schulstunden, die sie über sich ergehen hatte lassen. Nun saß sie also hier in der letzten Reihe, vor sich die drei Schlampen der Hawkins High und lauschte gezwungenermaßen ihren Geschichten. Carol öffnete bereits ihren Kirschrosa Mund, als die Schulglocke endlich klingelte und Aspen blitzschnell ihre Sachen in die Tasche neben sich stopfte, bevor sie aufsprang.

Der Flur war so gerammelt voll, dass Aspen ewig nach draußen brauchte. Hier und da wurde sie von einem orientierungslosen Schüler angerempelt, während sie sich unter dem Einsatz ihrer Ellenbogen eine Schneise durch die Menschenansammlung bahnte. Manchmal war Aspen der geborene Misanthrop. Endlich an ihrem Spint angekommen warf sie ihre Bücher nur so hinein, dass das in die Jahre gekommene Metall nur so ächzte. Sie wollte nur noch raus hier, die enge der Flure und die Anzahl der Schüler erdrückten sie beinahe. Jedes Mal wenn sie Nancy auf dem Flur sah, oder ihre Stimme in einem der Klassenräume hörte, fühlte sie sich schlecht. Ja, sie hatte sich versprochen niemanden in das Chaos hinein zu ziehen, das ihr Leben war, aber sie hatte nicht gedacht, dass es so schwer werden würde. Sie lehnte den Kopf an den Regalboden ihres Spintes. Früher war sie gerne hier zur Schule gegangen, hatte die Pausen mit ihren Freunden und ihrem Bruder verbracht und die Zeit genossen, in der sie etwas neues lernen durfte. Seufzend warf sie die Metalltür zu und schulterte ihre Tasche. Doch sie kam nicht weit, eine Hand schloss sich erbarmungslos und schraubstockartig um ihren Oberarm. Hawkins war kein Platz für Andersartigkeit oder Rebellion. Ihr war bewusst gewesen, dass ihr Auftauchen und ihre Art Aufsehen erregen würden, aber sie hätte nicht gedacht, dass sie wirklich Opfer eines dieses Klischeehaften Schulrowdys werden würde. 

„Schön dich wiederzusehen, Psychoschlampe. Wo hast du denn deinen Bruder gelassen? Ist er etwa das Menschenopfer für ein Ritual geworden?". 

Aspen ersparte sich die Mühe Tommy H zu erklären, dass sie keine Anhängerin des Teufels war, nur weil sie gerne schwarz trug und nicht an Gott glaubte.

(1328 Wörter)

𝙸𝚗 𝚖𝚢 𝚕𝚊𝚜𝚝 𝚕𝚒𝚏𝚎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt