𝒮𝑒𝓋𝑒𝓃

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An der Vergangenheit festzuhalten ist gefährlich . Man muss einfach weitermachen.
-Robert Redford 

𝙷𝚊𝚠𝚔𝚒𝚗𝚜, 𝙸𝚗𝚍𝚒𝚊𝚗𝚊: 𝙽𝚘𝚟𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛𝟷𝟿𝟾𝟺

Aspen ging am nächsten Tag nicht in die Schule. Sie wusste, dass etwas Schlimmes geschehen war. Doch sie konnte niemandem davon erzählen, was sie in der Nacht zuvor auf der Maple Street gesehen hatte. Es gab Dinge, über die man besser nicht redete, wenn man sein Leben nicht in einer Gummizelle fristen wollte. Früher hätte sie geredet, damals, bevor ihr Vater sie zu all den Ärzten geschleppt hatte. Aspen schluckte zwei der Tabletten, die dafür sorgen sollten, dass sie sich besser fühlte, auf einmal. Die Wände ihres Zimmers schienen zu schrumpfen, ihr ganzes Leben fühlte sich beklemmend an. Selbst der Gedanke an Jonathan, der sie sonst ruhelos umhertrieb, schaffte es nicht sie von den Geschehnissen der gestrigen Nacht abzulenken. Alles fühlte sich so surreal an. Hawkins schien seine Bewohner zu verschlingen wie ein hungriges Monster. Dieser Ort war schon immer anders gewesen. Er zog Menschen an, die rastlos umher streiften. Menschen, die niemand anderes wollte. Nachdem sie stundenlang die rissige Decke über ihrem Bett angestarrt und versucht hatte sich vorzustellen, wie es war, nicht sie selbst zu sein, schlüpfte Aspen unter der Bettdecke hervor. Das Haus war so leblos und kalt wie ein Mausoleum. Lustlos öffnete sie ein paar der Kisten und zog die darin befindlichen Gegenstände heraus. Eigentlich hatte sie nicht damit gerechnet lange zu bleiben, weshalb sie es nicht für nötig erachtet hatte die Kartons auszuräumen. Aspens Blick fiel auf einen Bilderrahmen, welchen sie zuunterst, eingeschlagen in einige Lagen Seidenpapier, entdeckte. Sie kannte das Foto darin nur zu gut, trotzdem nahm sie den goldenen Rahmen heraus, um die schützende Verpackung zu lösen. Von dem glänzenden Fotopapier lächelte ihr eine jüngere Version von sich selbst entgegen. Sie trug ein himmelblaues Sommerkleid und ihre blonden Haare wehten, von einer lauen Sommerbriese getragen, im Wind. Neben ihr stand Jonathan, seine Sachen wie immer abgetragen und zu groß für seine schlaksige Gestalt. Er hatte einen Arm locker um ihre Hüfte gelegt und seine Augen waren anstatt nach vorne, direkt auf sie gerichtet. Sie wusste nicht mehr wann er angefangen hatte sie mit diesem Blick anzusehen, aber sie wusste, dass es ihr gefallen hatte. Wäre das alles nicht passiert, da war sich Aspen sicher, dann wären sie irgendwann zusammengekommen. Irgendwann, wenn einer von beiden den Mut gehabt hätte endlich über seine Gefühle zu reden. Aber die Dinge die passiert waren, konnten nun mal nicht ruckgängig gemacht werden. Seufzend ließ Aspen das Bild zurück in die ansonsten leere Kisten gleiten, bevor sie sich dem Rest ihrer Sachen widmete.

Es war mitten in der Nacht, als das Schrillen der Klingel Aspen aus unruhigen Träumen riss. Einen Moment war sie verwirrt und orientierungslos. Ihr Herz raste, von den schrecklichen Bildern, die sie noch Sekunden zuvor in ihren Träumen gequält hatten. Erneut ertönte die Klingel und Aspen stand schwerfällig auf. Ihr Schädel dröhnte und sie kniff die Augen zusammen, als sie den Lichtschalter betätigte. Das Haus lag still und verlassen dar, vielleicht hatte John seinen Schlüssel vergessen und war derjenige, der sie aus dem Schlaf gerissen hatte. Ein tiefes, melancholisches Seufzen entwand sich Aspens Kehle. Er war kein schlechter Mensch, aber er hatte sich in Wut und Trauer verloren. Vielleicht würde ihr bald genau dasselbe passieren und sie würde in ihren unterdrückten Emotionen ertrinken. Als sie die Tür aufgesperrt und geöffnet hatte schlug ihr eine eiskalte Prise entgegen. Aspen zog fröstelnd die Schultern nach oben, doch die Kälte verschwand augenblicklich, als die sah, wen sie da vor sich hatte. Sie starre ihn einfach an, ohne ein Wort über die bereits bläulich gefärbten Lippen zu bringen. Die braunen Haare hingen ihm klitschnass in die blasse Stirn und Jonathans Augen schienen tränennass. Tief in ihrem Herzen erzitterte etwas bei diesem verletzlichen Anblick. Regen prasselte unerbittlich auf Jonathan hernieder, der aussah, als würde er sich jeden Augenblick übergeben. 

𝙸𝚗 𝚖𝚢 𝚕𝚊𝚜𝚝 𝚕𝚒𝚏𝚎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt