𝒮𝒾𝓍

122 9 1
                                    

❝Bei Tage ist es kinderleicht, die Dinge nüchtern  und unsentimental zu sehen. Nachts  ist das eine ganz andere Geschichte.❝
-
Ernest Hemingway

𝙷𝚊𝚠𝚔𝚒𝚗𝚜, 𝙸𝚗𝚍𝚒𝚊𝚗𝚊: 𝙽𝚘𝚟𝚎𝚖𝚋𝚎𝚛𝟷𝟿𝟾𝟺

Nur der pochende Schmerz schaffte es das Wirr-War aus Gedanken in ihrem Kopf für wenige Augenblicke zu bändigen, während Aspen erneut gegen die rotbraune Backsteinmauer schlug. Ihre Fingerknöchel knackten und sie spürte wie die dünne Haut aufplatze. Das befreiende Gefühl, als dunkle Flecken auf der Wand auftauchten, die von ihrem eigenen Blut stammten, flutete ihre Venen und der Drang weiterzumachen schien unüberwindbar. Aspen spürte ihre Augen brennen, aber keine einzige Träne rann über ihr, von der Kälte ganz roten, Wangen. Die nach Vernunft schreiende Stimme in ihrem Kopf wurde mit jedem Hieb immer leiser, bis sie schließlich ganz verstummte. Gegen diese Mauer zu schlagen, bis ihre Finger taub waren, schien die einzige Möglichkeit sich von Allem zu befreien. Erst als sich eine Hand bestimmend um ihre legte und sie davon abhielt sich selbst weiter zu verstümmeln, öffnete Aspen flatternd ihre Augen.

Er war wie ein Fluch, ihr ganz persönliches Verderben. Jonathan Byers. Der Junge, mit dem sie aufgewachsen war, der sie bis nach Hause trug, als sie sich beim Spielen verletze. Sein Anblick schmerzte mehr als Nancys Worte es jemals gekonnt hätten. Seine braunen Augen waren mit einer Mischung aus Mitleid und Verständnis auf das Szenario gerichtet, dass Aspen in diesem Moment selbst erst zur Gänze begriff. Ihr ganzer Körper wurde von tränenlosen Schluchzern geschüttelt, ihre Tasche hatte sie einfach auf den Boden geworfen und deren Inhalt somit über den ganzen Hinterhof verteilt. Aber schlimmer war die Erkenntnis dessen, was sie sich selbst angetan hatte. Die Knöchel ihrer rechten Hand waren blutverschmiert und die Haut darüber vollkommen zerfetzt. Sie spürte das Brennen kaum, aber trotzdem war ihr bewusst, dass sie es übertrieben hatte. Entsetzt über sich selbst wollte sie ihre Hand aus Jonathans Griff entreißen, dessen Präsenz ihr in diesem Moment erst wieder bewusst wurde.

„Lass mich sehen.", Jonathan dachte gar nicht daran Aspens Handgelenk loszulassen. 

Einen Moment lang sah er den Widerstand in ihren Augen, einen inneren Kampf, der jedes Mal in ihr zu toben schien, wenn sie ihm gegenüber stand. Urplötzlich hörte sie auf sich ihm entziehen zu wollen. Ihre Haltung wurde weicher und ihre Hand in seiner erschlaffte. Jonathans Finger strichen vorsichtig über die blutigen Stellen und es bereitete ihm beinahe selbst Schmerzen, als er spürte wie sich Aspen verkrampfte. 

„Wieso hast du das getan?", er war sich bewusst, dass eine falsche Frage ihn wieder an den Ausgangspunkt zurückbringen würde. 

Obwohl er, wie wahrscheinlich jeder andere Schüler der Hawkins High-School, den Streit zwischen Nancy und Aspen mitbekommen hatte, wollte er es aus ihrem Mund hören. Jonathan hatte die beiden als Kinder oft zusammen erlebt, ein Herz und eine Seele. Auch wenn Aspen das Gegenteil behauptet hatte, war er sich sicher, dass nichts davon gespielt gewesen war. 

 „Ich... ich will nicht darüber reden.", sie hatte die Augen geschlossen, während sie versuchte das Gefühl von ihm auf ihrer Haut zu ignorieren. 

Obwohl Jonathan aufgehört hatte sich ihre Wunden zu besehen, ließ er sie nicht los. Er wusste zu gut, dass Aspen diese Verbindung, ein Schatten dessen was sie einst geteilt hatten, nicht so schnell wieder zulassen würde.

„Um ehrlich zu sein hatte ich nicht erwartet dich jemals wiederzusehen.", die Worte waren ihm schneller über die Lippen gekommen als ihm lieb gewesen wäre. 

Jonathan sprach nicht oft das aus, was er dachte. Aber mit Aspen war es schon immer anders gewesen. 

Inzwischen malte sein Daumen sanft kleine Muster auf ihren Handrücken: „Am Anfang wollte ich wiederkommen, ehrlich." noch nie hatte er ihre Stimme in den vergangenen Tagen brechen hören „Aber nicht so...". 

Sein Blick wanderte über ihr schmales Gesicht, das von den schwarzen schulterlangen Haaren umrahmt wurde. Er hatte ihre Haare gemocht, als sie noch lang und strohblond gewesen waren. Aber er liebte es wie das schwarz ihre eisblauen Augen noch kälter und unnahbarer wirken ließ. Jonathan hatte die 5-jährige Aspen mit ihren Engelslocken und den himmelblauen Kleidern geliebt, hatte sie immer geliebt und tat es noch. Es war ihm egal ob ihre Haare blond, oder schwarz, ihre Kleidung Pastellfarben oder dunkel war. Hauptsache sie war es, die vor ihm stand. All das wollte er in diesem Moment sagen, in der Hoffnung, es würde etwas zwischen ihnen ändern, aber es war noch nie mutig gewesen. Nicht damals vor zwei Jahren, als er sie das letzte Mal in seinen Armen gehalten hatte, bevor sie verschwand. Und auch nicht jetzt.

Der Moment der Nähe war vorbei, als die Schulglocke Aspen aus der Trance seiner Berührung riss und sie zurückweichen ließ. 

„Wieso kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen? Wieso klammerst du so an dem Wunsch, ich wäre die Person, die du vor zwei Jahren gehen hast lassen?", auch ihre Stimme hatte wieder einen distanzierten Ton angenommen, aber darin schwang noch etwas anderes mit. 

Sie konnte nicht aufhören ihn anzusehen: „Weil ich dich nie gehen hab lassen, für mich bist du immer noch hier. Egal wer dir wehgetan hat, ich... ich kann dir helfen darüber hinweg zu kommen!". 

Aspen schnaubte abwertend, während sie versuchte seine Worte nicht zu sich durchdringen zu lassen. 

„Man hat mir nicht wehgetan, Jonathan. Man hat mir das Herz aus der Brust gerissen und es vor meinen Augen zerfetzt. Es sind nur noch Scherben übrig und das Mädchen, das du kanntest, ist weg. Hör endlich auf dir Hoffnungen zu machen.". 

Aspen wandte sich ab um den Inhalt ihrer Tasche aufzusammeln. In ihrem Rücken konnte sie Jonathan spüren, hörte seinen schweren Atem. Und dann ging er. Er versuchte nicht mehr an ihr altes-Ich zu appellieren, gab auf über die hohe Mauer klettern zu wollen, die sie um ihr Herzen gezogen hatte. Einzelne Tränen tropften auf ihre Hände, während sie die Sachen hektisch in ihre Tasche stopfte. Sie hatte es geschafft die einzigen Menschen, die sich noch um sie bemüht hatten, von sich zu stoßen. Es gab niemanden mehr zu dem sie noch konnte. Aspen war allein.

In dieser Nacht fuhr sie ziellos umher, während in ihrem Inneren ein alles zerstörender Sturm tobte. Nicht einmal Musik konnte sie noch beruhigen, also fuhr sie in völliger Stille durch die Straßen von Hawkins. Sie dachte an all die Dinge, die hinter ihr lagen, an die vielen Male als sie am liebsten in den nächsten Bus gestiegen wäre, um hierher zurück zu kommen. Damals, als sie noch sie selbst gewesen war, ohne all die grausamen Ereignisse, die sie geprägt hatten. Sie wäre aus dem Bus gestiegen und hätte Jonathan gesucht. Hätte ihm alles erklärt und sie wusste, dass er sie verstanden hätte. Wie immer. Der Wald zog links und rechts an ihr vorbei, während sie den Weg in Richtung des Hawkins Labors einschlug. Ihr Vater hatte dort früher als Entwickler gearbeitet, bevor sie ihm, wegen abhandengekommener Dokumente, fristlos gekündigt hatten. Aspens Gedanken waren überall und nirgendwo. Dass die Scheinwerfer des Wagens mit einem letzten Flackern erstarben bemerkte sie nicht. Und als sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf die Straße richtete, stand eine Person mitten auf der Fahrbahn. Sie drückte die Bremse durch und stemmte sich gegen das Lenkrad.

Der Wagen kam mehrere Meter hinter ihm zu stehen, aber nah genug, dass sich seine Silhouette im Scheinwerferlicht abzeichnete. Er war klein, und hatte sein Fahrrad schützend vor sich gestellt. Obwohl Aspen sein Gesicht nicht sehen konnte, spürte sie, dass er Angst hatte. Panische Angst. Und da tauchte es auf, dieses Wesen, welches gut einige Meter von ihm entfernt auf die Straße trat, groß und hager. Es- aus einem ihr unerfindlichen Grund, wusste sie das es kein Er war- verströmte ein Gefühl von Bedrohlichkeit. Aspen wusste plötzlich wie sich eine Antilope im Angesicht eines Löwen fühlen musste. Ihr war eiskalt und sie wagte es nicht sich zu rühren. Das Ding machte eine zuckende Bewegung und riss den Kopf in ihre Richtung. Es hatte seine Beute gewittert. Denselben Gedanken schien der Junge zu haben, denn mit einem Mal wandte er sich in Richtung des Wagens. Aspen hielt immer noch starr vor Angst die Luft an, und atmete schockiert aus, als sie für einen Moment die kindlichen Gesichtszüge sah, bevor der Junge sich in den Wald stürzte. Innerhalb eines Wimpernschlags war auch die hünenhafte Kreatur verschwunden, doch der glucksende schrille Ton der kurz darauf aus dem Wald ertönte ließ Aspen das Blut in den Adern gefrieren. Das Lenkrad weiterhin umklammernd, starrte sie noch einige Minuten in die Dunkelheit, bevor sie den Motor anließ und benommen das Gaspedal durchdrückte, während sie versuchte sich einzureden, dass ihr Verstand ihr einen Streich gespielt hatte.

(1419 Wörter)

𝙸𝚗 𝚖𝚢 𝚕𝚊𝚜𝚝 𝚕𝚒𝚏𝚎Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt