Das Sommernacht Ritual von @Aya_limea

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Das Sommernacht Ritual

Eine leise Melodie, so unscheinbar und zart, dass nur wenige Seelen sie vernahmen, erfüllte die abendliche Stimmung. Leicht huschte sie an den dicken Stämmen der Tannen vorbei, strich über blühende Wiesen und goldene Garbenfelder, umspielte die Köpfe der Waldbewohner, kitzelte an den Fusssohlen der Feen und umhüllte jedes Geschöpf, das sich näherte. Manchmal war sie laut und eindringlich. Rüttelte an den Fensterläden von den alten Häusern, zerrte an den langen Haaren der Mädchen und jagte die Wachhunde durch den Hof. Doch meistens war sie leise, ein feines Säuseln im Wind, das sich mit dem Plätschern der Bäche vermischte und im morgendlichen Vogelgezwitscher fast gänzlich unterging. Im Laufe der Zeit verlor sie an Kraft und Magie, geriet in Vergessenheit und war nun mehr ein Wispern in den Ohren der Menschen.

Und nun stand er auf einer Hochebene, liess seinen Blick über die endlos scheinenden Felder wandern, die im Licht der untergehenden Sonne, wie ein Meer aus flüssigem Gold erstrahlte. Seine nackten Füsse versanken im weichen Gras, kleine Ameisen krabbelten über seine Zehen. Ein angenehm warmes Lüftchen wehte ihm entgegen und trug den vollen Duft nach Rosen und Lavendel mit sich, das ihn wieder an seine Nana erinnern liess.

Seine Grossmutter erzählte ihm oft von diesem Gesang. Berichtete ihm von Legenden und Sagen, von zauberhaften Wesen, leuchtende Pilze, glühende Steine, riesige Blumen und noch grössere Insekten. Sie schwärmte von einem wundervollen Ort, abgeschieden von der Realität, voller Magie und Zauber. Der Ort entsprang aus ihrer Fantasie, ihren eigenen Gedanken. Sie konnte Leben erschaffen, Formen ändern und Neues entstehen lassen. Sie selber bezeichnete sich als Imago, doch Moa wusste nicht, was dies bedeutete. Immer wenn er sie darauf ansprach, lächelte sie in besonnen an und sprach in ruhigem Ton, dass auch er diese Gabe in sich trug und er nur seine Sinne öffnen muss. Angeblich sollte eben diese Melodie, alle Geschöpfe, welche sie in ihrem Herzen verinnerlicht haben, zur Pforte führen. Wie oft hatte sie sich auf den Weg in den Wald gemacht. Mit ihrem langen Ast, den sie als Spazierstock nutzte, ihrem grünen Umhang und ihrer ledernen Umhängetasche sah sie fast aus wie eine Kräuterhexe. Vielleicht war sie das ja auch, Moa glaubte dies zumindest.

Doch eines Abends kam sie nicht mehr nach Hause und die folgenden Tage auch nicht. Das ganze Dorf brach auf, um sie zu suchen - bis man sie schlussendlich fand. Mit einem leichten Lächeln auf den Lippen, ihre Lider geschlossen, lehnte sie an einen dicken Stamm einer uralten Eiche in mitten einer Lichtung. Ihre Haut war bleich und ihr Körper war steif und kalt. Es war das erste Mal, dass Moa dem Tod direkt in die Augen blickte. Moa weinte viel, ging oft in den Wald und legte Blumen auf ihr Grab. Doch je älter er wurde, desto weniger Zeit hatte er dafür. Nur noch selten ging er in den Wald und legte ihr ein kleines Geschenk auf die nun überwucherte Grabstelle. Doch ein Tag im Jahr hielt er sich immer frei für sie. Am 21. Juni, ihr Todestag und zu gleich auch der Zeitpunkt der Sommersonnenwende, nahm er den langen Weg auf sich, ihr irdisches Sein zu würdigen. Wie auch heute.

In seiner ledernen Umhängetasche befand sich eine kleine Flasche mit frischer Milch, ein Stück Käse und ein Laib Brot. Auf seinem Weg sammelte er die schönsten Blumen und richtete sie zu einem schönen Strauss, ehe er seine Wanderung fortsetzte. Nachdem er einen Moment verweilt hatte, ging er weiter den Hang empor. Bereits von weitem verspürte er den Zauber des Waldstückes und sein Herz begann schneller zu schlagen. Er lächelte und beschleunigte seine Schritte. Im Nu war er oben und die angenehme Dunkelheit und Kühle umhüllte ihn. Immer wieder aufs Neue war er über die sofort wechselnde Atmosphäre überrascht. Wo zuvor sich die Luft noch schwer und warm auf seiner Haut angefüllt hatte, war sie nun prickelnd und erfrischend. Eine angenehme Ruhe herrschte und dennoch war es nie vollkommen still. Das Rauschen der Blätter, das Knarren der Stämme, Knacksen und Knirschen von allen Himmelsrichtungen - es beruhigte Moa. Sofort spürte er, wie sich jede Faser seines Körpers entspannte und sich seine Lungen mit Sauerstoff fühlten. Gemächlich und bedacht wanderte er einen schmalen Pfad entlang, der von Rehen und anderen Huftieren im Laufe der Zeit entstanden war. Immer tiefer drang er in den Wald ein, vergass die Zeit und all seine Probleme und tauchte in eine vollkommen neue Welt ein. Es schien fast so, als würde Moa jeden Baum, jeder Stein und jedes Pflänzchen kennen. Dennoch vernahm er die Melodie noch nicht, egal wie sehr er sich darauf konzentrierte. Ab und zu vereinzelte Klänge, ein Murmeln und Flüstern - mehr nicht. Doch Moa gab nicht auf. Er wusste, dass er seine irdische Existenz loslassen musste, um die Melodie zu hören und die Pforte zu finden.

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