Kapitel 1 - Hanna

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Schwer atmend versuchte ich meinen riesigen Koffer in die Hütte zu wuchten. Draußen herrschte ein eisiger Schneesturm und es war mittlerweile schon nach Mitternacht. In dem Hausflur, in dem ich nun stand flackerte ein kleiner Lichterkranz, der gerade so genug Licht spendete, dass ich nicht über das Schuh-Wirr-Warr stolperte, welches sich vor mir ergab.

Da es bereits so spät war, war es in der Hütte urig still. Genau wie ich es am liebsten hatte. Im Kamin knisterte noch ein kleines Feuer und ich konnte Opa Georges Schnarchen aus dem Obergeschoss hören.

Ich bin mir nicht sicher, was ich an den Weihnachtsfeiertagen am meisten liebte. Die vielen bunten Lichter, Grandmas Kekse oder einfach das Beisammensein mit meiner ganzen Familie in Onkel Peters Berghütte.

Wir fahren schon seit ich denken kann jedes Jahr hier hoch. Sogar meine Mom, die schon fast in Ihrem Büro lebte, nahm sich Zeit für uns. 

Seitdem ich in ... studierte bekam ich meine Mom und meine kleine Schwester Maddie nur noch selten zu Gesicht. Die Gebühren waren schon teuer genug und ich verbrachte neben dem Lernen meine Freizeit damit, mir die nötigen Kröten dazu zu verdienen. Auch wenn meine Eltern damals eine große Steuerberaterkanzlei geführt haben, möchte ich meiner Mom nicht auf der Tasche liegen.

Dad und Sie haben sich vor einigen Jahren scheiden lassen und ich glaube, wenn ich neben den Gebühren auch noch ein Taschengeld verlangen würde, würde Maddie in eine Pflegefamilie ziehen müssen, weil Mom dann auch über Nacht im Büro bleiben würde.

Ich wuschelte mir meine langen blonden Locken trocken und ging leise Richtung Küche. Ich konnte jetzt eine Tasse Tee vertragen.

Das kleine Feuer aus der offenen Wohnstube spendete noch etwas Licht und als ich den Schalter betätigte mussten sich meine Augen erst einmal an die Helligkeit gewöhnen.

Es sah alles noch genau so aus, wie im letzten Jahr.

Aus dem kleinen Schrank holte ich mir einen Topf und goss Wasser hinein. Der Gasherd gab ein leises Klicken von sich, als ich ihn anstellte. Ganz in Gedanken steckte ich mir meinen iPod in die Ohren und hörte ein paar Weihnachtslieder, die ich leise mit summte und im Takt mit dem Fuß zu wippen begann.

Mit dem Rührlöffel in der Hand sang ich tonlos den Refrain von „Last Christmas" und drehte mich einmal im Kreis. Mit einer Hand in der Luft und dem Rührlöffel als Mikrofon kam ich abrupt zum Stehen. Vor Schreck fing ich an zu Husten und schaute mich schnell in der kleinen Küche um.

In der Tür stand ein völlig fremder Kerl, seine dunklen braunen Augen funkelten amüsiert. Seine blonden Haare leuchteten im Licht und sein Grinsen hätte nicht frecher sein können. Strahlend weiße Zähne blitzten aus seinem Lächeln hervor.

Da er nur in Shorts und einem weißen Muskelshirt bekleidet dort stand, als würde er schon seit Jahren in dieser Hütte Urlaub machen, beruhigte sich mein Herzschlag schnell wieder. Ein Einbrecher jedenfalls würde niemals bei dem Wetter so leicht bekleidet in eine Hütte einsteigen, in der alle fünf Schlafzimmer belegt waren.

„Nette Tanzeinlage", sagte er und sein Grinsen breitete sich noch etwas weiter aus, sodass kleine Grübchen zu sehen waren „zu welchem Lied bist Du gerade so abgerockt, wenn ich fragen darf?"

„Um Himmels Willen, Du hast mich beinahe zu Tode erschreckt. Es ist nicht besonders Gentleman-Like sich mitten in der Nacht durch ein fremdes Haus zu schleichen!"

"Tut mir Leid, ich bin Jannis. Charlotte hat mich eingeladen die Weihnachtsferien hier zu verbringen. Wir kennen uns aus der Uni. Echt scharf die Kleine, wobei Sie mit Dir eher nicht mithalten kann." er zwinkerte mir zu.

„Ich bin mir nicht sicher, ob das ein Kompliment sein sollte, aber Dir ist hoffentlich klar, dass ich Charlottes Cousine bin? Vielleicht könntest Du etwas weniger obszön über sie oder gar mich reden?"

Ich drehte den Rührlöffel lässig in meiner Hand und zeigte mit der Spitze auf ihn.

„Wohoho, darf man denn gar keine Witze machen?" mit erhobenen Händen, als würde ich ihn erschießen wollen, taumelte er ein paar Schritte rückwärts.

Das brachte mich dann doch etwas zum Schmunzeln.

Verdammt, wieso hatte Charlotte immer so ein Glück? Zu fast jedem Familienevent brachte sie die schnuckeligsten Kerle mit.

Jannis übertrifft sogar das CK Unterwäsche Model, welches sie letztes Jahr zu Ihrer Abschlussparty begleitet hat. Ok, Unterwäsche Model ist nun etwas übertrieben, aber er hätte als eines durchgehen können. Das fand sogar meine beste Freundin Anna, die für Männer irgendwie so gar nichts abgewinnen konnte.

Als er wieder breit zu Grinsen begann, merkte ich erst, dass ich ihn wohl etwas zu lange angestarrt hatte.

„Also, Jannis. Was verschafft mir die Ehre, Dich hier unten in meiner bescheidenen Küche begrüßen zu dürfen? Du willst mir doch nicht erzählen, dass ich zu laut gesungen habe?" HA, wenn ich das mal nicht cool überspielt hatte.

„Ich weiß ja nicht, wie es Dir geht, aber bei dem Schnarchen von Deinem Großvater kann doch kein Mensch schlafen." Verlegen strich er sich mit der Hand durchs Haar und zeigte hinter sich in den Flur.

Recht hatte er, als Neuling war es nicht unbedingt leicht, mit meiner chaotischen Familie zurecht zu kommen. Als kleine Entschädigung reichte ich ihm eine Tasse dampfenden Tee, der mittlerweile durchgezogen war. Mit einem dankbaren Lächeln nahm er sie entgegen.

„Ein Glas Whiskey hätte mir nun irgendwie besser gefallen, aber ich glaube der Tee tut es auch."

„Sorry, dass ich Dir mit Whiskey nicht dienen kann. Seitdem mein Vater ausgezogen ist, haben wir in der Berghütte nur noch Tee, Glühwein oder Apfelpunsch. Ab und zu bringt Tante Alli auch mal eine Fruchtschorle mit, aber das gehört eher zur Ausnahme." erklärte ich ihm und lehnte mich mit meiner Tasse an die Spüle.

Er nahm einen großen Schluck und fing direkt darauf an zu Husten. Ich musste leise lachen. „Kalt kochen kann ich leider nicht." Ich zuckte mit den Schultern und widmete mich den neuen Fotos an der gegenüberliegenden Wand. Jedes Jahr kamen ein paar mehr dazu.

So langsam wurde ich fürchterlich müde. Nachdem mein Flugzeug drei Stunden Verspätung hatte und in diesem kleinen Dorf weit und breit kein Taxi zu finden war, hatte ich mich die letzten drei Kilometer vom Busbahnhof zu Fuß durch den Schnee gekämpft. Zum Glück hatte ich meine dicken Winterboots an, ansonsten wären meine Füße nun wohl Eiszapfen.

Jannis hatte sich mittlerweile von seinem Hustenanfall erholt und stellte die leere Tasse in die Spüle.

„Vielen Dank für den Tee, Du hast einen Gut bei mir. Ich schätze, ich werde nun die Ohropax suchen und mich wieder ins Bett legen. Gute Nacht, äh..."

„Hanna", entgegnete ich und füllte mir noch eine Tasse ein „wir sehen uns dann wohl Morgen. Schlaf gut."

Er hob zum Abschied noch kurz die Hand und verschwand wieder im dunklen Flur. Die Stufen knarzten unter seinem Gewicht. Als die Tür oben ins Schloss fiel atmete ich hörbar aus.

Ich glaube, die Weihnachtsferien werden die reinste Folter.


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