Kapitel 6 - Hanna

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Es gibt doch nichts schöneres, als frisch geduscht im Bett zu liegen und ein gutes Buch zu lesen. Dabei konnte ich schon immer gut abschalten und meine Gedanken vergessen. Als es gerade spannend wurde und sich der männliche Protagonist traute seine Auserwählte zu küssen, klopfte es an der Tür. 

"Ja?" rief ich und zog mir die Decke bis über die Brust. Herein trat tatsächlich Charlotte, was mich sehr wunderte. "Hey Hanna, kann ich reinkommen?"

"Ähm, klar. Setz Dich ruhig, wenn Du magst", ich glaube, meine Verunsicherung konnte man deutlich spüren. Ich wusste nicht, ob ich mich über Charlotte freuen sollte oder ob ich vor Angst lieber die Tür wieder zuschlagen sollte. Ihr Kommentar von vorhin hatte mich wirklich getroffen und unsere letzten Gespräche waren nicht unbedingt freundlich gewesen.

"Hör mal Hanna, das war vorhin nicht ganz richtig von mir. Tut mir Leid, okay? Ich weiß auch nicht, aber in Jannis Gegenwart bin ich immer etwas... kratzbürstig." Sie knetete leicht ihre Finger und sah mich hilfesuchend an. Als ob ich sowas verstehen könnte. Natürlich konnte ich das. Auch bei Lucas und mir gab es die eine oder andere Situation, bei der ich meine wahren Gefühle verbarg. Allerdings nicht auf Kosten anderer Menschen.

"Ich bin mir nicht sicher, was Du nun von mir hören möchtest." sagte ich ehrlich und wollte gerade erneut beginnen, als Charlotte den Kopf senkte. Ein leises Schluchzen war zu hören. "Charlotte, ist alles in Ordnung mit Dir?" Ihre Schultern bebten und ich bekam ein schlechtes Gewissen. 

"Es ist nur so. Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll. Irgendwie hasse ich mich selbst, wenn ich so bin, wie ich bin. Ich habe nur das Gefühl, dass ihr das alle irgendwie von mir erwartet. Alle erwarten das von mir. Meine Freundinnen, die Jungs aus meiner Clique."

"Charlotte, das ist doch wahnsinnig. Du kannst uns doch nicht mit Deinen Freundinnen vergleichen. Wir sind Deine Familie!" ich griff nach ihrer Hand. Sie war eiskalt, auch wenn ich genau wusste, dass sie gerade aus der Sauna kommt. "Das weiß ich doch. Ich habe nur das Gefühl, dass alle immer denken, ich wäre das taffe Mädchen. Ich wünschte, wir wären niemals in die Stadt gezogen. Ich beneide Dich so sehr für Deine Leichtigkeit." Sie drückte meine Hand. Ich zwickte mir mit der anderen Hand vorsichtig ins Bein, in der Hoffnung, Charlotte würde nichts davon mitbekommen. Irgendwie hatte ich tatsächlich das Gefühl, ich würde träumen. Allerdings wachte ich nicht auf, Charlotte saß also tatsächlich vor mir und weinte. "Möchtest Du dich einen Moment zu mir legen?" "Du hasst mich nicht?" fragte sie unsicher. Ich grinste sie an und ließ sie unter meine Decke krabbeln. "Ach Charlotte. Du warst meine beste Freundin. Auch wenn Du mich manchmal mit Deinen Kommentaren verletzt hast, hat jeder Mensch eine zweite Chance verdient. Ich hoffe natürlich, dass ich sie Dir nicht umsonst gebe, aber Du weißt doch, Familie muss zusammen halten und nun erzähl mir mehr von all' den reichen Schnöselkindern, die Du deine Freundinnen nennst."

Sie grinste mich an und fing an zu erzählen. Ungefähr nach der Hälfte ihrer Geschichte über Champagner, wilde Partys und heiße Typen kam Maddie ins Zimmer gehüpft, blieb allerdings abrupt stehen, als sie Charlotte und mich zusammen im Bett liegen sah. Rückwärts verließ sie das Zimmer und trampelte die Treppenstufen nach unten. Wir grinsten uns an und fingen an zu lachen, Tränen liefen über unser Gesicht. Ich hatte tatsächlich das Gefühl, die Welt wäre für einen kurzen Moment in Ordnung, bis ich mein Handy aufleuchten sah. Ich hatte gedacht wir hätten in der ganzen Hütte keinen Empfang, fragend drehte ich mich zu Charlotte. "Seit wann haben wir hier denn Internet?" "Oh, ich hatte Daddy darum gebeten. Er war sehr leicht zu überzeugen, als ich ihm sagte, dass ich sonst nichts für die Uni machen könnte und ich doch dringend an die Testergebnisse kommen musste. Ist doch toll, oder?" sie strahlte mich an, nahm ihr eigenes Handy in die Hand und scrollte durch Instagram. "Hm, ganz toll." ich drückte auf den Entsperrknopf meines neuen Smartphones und löschte sämtliche Anrufe und Nachrichten, die Lucas in den letzten 24 Stunden hinterlassen hatte. Frustriert öffnete ich seinen Chat und blockierte die Nummer. Ich brauchte einfach Abstand und den gewann ich nicht, indem ich ständig Anrufe von ihm auf dem Display hatte. Was mich allerdings am meisten wunderte war, wie er an meine neue Nummer gekommen war. Wahrscheinlich hatte er eine meiner Kommilitonen darum gebeten. Ich warf das Handy auf den Sessel neben meinem Bett und kletterte aus dem Bett. "Hey Charlotte, gehst Du mit mir spazieren?" Wie zu erwarten schüttelte sie den Kopf und kletterte ebenfalls aus dem Bett. Sie drehte sich an der Tür noch einmal zu mir um und dankte mir für die paar ruhigen Stunden. Ich schüttelte verwundert den Kopf und zog mir meinen dicken Pullover an. Ich musste dringend an die frische Luft.

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