Es war zuerst der Geruch, der mir auffiel und mir verriet, dass etwas anders war.
Mischte sich sonst immer ein Geruch aus Sichtbeton, primitivem Waschmittel und Angst zusammen, atmete ich nun Partikel in meine Nase, die nach gotischem Gemäuer, Blut und noch mehr Angst schmeckten; es musste also etwas passiert sein, dass sich auf irgendeine Weise von den Geschehnissen der letzten einundvierzig Tage unterschied.
Als nächstes drangen Geräusche zu mir. Ein Schleifen treppabwärts, dazu harte Schritte im Gleichtakt, ein schmerzdurchzucktes Stöhnen. Nach meinen ersten Tagen hier hatte ich angenommen, dass mir nach kurzer Zeit alles einerlei sein würde; doch als mir diese Geräusche wie ein geschliffenes Brotmesser durchs Herz drangen, musste ich mir das Gegenteil eingestehen. Wie Fäden spannten sich Emotionen durch den Raum, breiteten sich elektrostatisch aus und durchbrachen die Wände; ich musste mich jeden Abend in der Bettdecke festkrallen, wenn ich die Tränen in der Zelle neben mir langsam eine fremde Wange hinunter rollen spürte; ich verbot mir jede Nacht erneut, mir vorzustellen, wer dort lag und damit dem bleichgesichtigen gesichtslosen Individuum einen Namen zu geben; denn meine rohen Grundkentnisse der menschlichen Psychologie sagten mir, dass ich unweigerlich daran zerbrechen würde.
Allgemein fragte ich mich ziemlich oft, ob ich nicht schon zerbrochen war.
Ich konzentrierte mich wieder auf die Emotionen, die außerhalb meiner Zelle zuckten, und wurde von einer gewaltigen Erschütterung getroffen, als die nackte Panik direkt vor meiner Tür stand. Im nächsten Augenblick wurden die Riegel zurückgeschoben, das Kratzen des Metalls traf mich dermaßen laut in der Stille, dass ich auffuhr. Ein Schlüssel wurde gedreht und das Türblatt schwang wenige Zentimeter an meiner Nase vorbei. Ein Häufchen Elend landete auf dem Linoleum und mit einem Klack rastete das Türschloss wieder ein. Drei Riegel schrappten zurück und hinterließen ein widerwärtiges Pochen in meinem Gehörgang.
Der geknüllte Stofffetzen vor meinen Füßen bewegte sich. Ich kniete mich auf den Boden und griff auf gut Glück nach einer Naht; sie erwies sich als Schulter, rote Feuchtigkeit sickerte auf meine Finger und ein gequälter Laut drang durch den Stoff, als ich nach der zweiten Schulter griff und den Menschen in eine halbwegs sitzende Position brachte.
Ein kantiges Gesicht blickte mir entgegen, schwarze Haarsträhnen klebten in der Stirn und über den Augen, die aufgeplatze Unterlippe zitterte und ich musste eher mehr als weniger an den Schultern rütteln, bis er mich ansah.
"Du bist nicht eine von denen im Norden - oder. Bitte sag, bitte sag - dass du nicht auch so eine bist."
Ernüchterte Panik klang durch seine Worte und der wilde Blick stierte mich in wallendem Vorwurf an.
"Doch, ich komme aus dem Norden." Abstoßendes Gräuel, er brachte es fertig, Kraft aufzubringen, um sich wenige Zentimeter von mir wegzuschieben, physisch jedenfalls, mental pflockte er damit Zaunpfähle ein und wickelte Stacheldraht darum.
"Jedenfalls war ich eine von dort, bis sie mich eliminiert haben, jetzt - bin ich niemand mehr."
Es schien ihn nicht zu überzeugen. Hasserfüllt tropfte eine rote Spur auf das Linoleum, als er langsam ausatmend zur Seite kippte, seine Augenlider flatterten und die Reaktionszeit sehr lang war, die er brauchte, um die Hand auszustrecken, um seinen fallenden Körper zu stützen. Ich fing ihn auf und schleifte ihn in den kleinen abgetrennten Raum, der trotzig als Badezimmer bezeichnet wurde.
Er wehrte sich, als ich ihm den dicken schwarzen Mantel entwand und von den Schultern streifte. Er wehrte sich, als ich das darunter zum Vorschein kommende ehemals weiße Hemd aufknöpfte und ihm auszog. Er wehrte sich auch, als ich ihn auf den Klodeckel setzte und ihm sagte, er solle sich nicht rühren. Doch seine Gegenwehr war so kraftlos, dass ich sie ohne weiteres ignorieren konnte. Ich holte einen Lappen, hielt ihn unter kaltes Wasser und säuberte seine Schulter, die offen blutete, wobei sich Fasern des Wollmantels mit der zähen Flüssigkeit verbunden hatten und bereits langsam austrockneten. Ansonsten stellte ich fest, dass seine linke Wange geschwollen war, dass ihn eine lang verheilte Narbe quer über das rechte Schlüsselbein zierte und er starkes Nasenbluten hatte, das ich jedoch vorerst sich selbst überließ. Seine Augenringe waren so dunkel, dass ich vorrangig sie für den Zusammenbruch verantwortlich machte, die frischen Wunden hatten ihn wohl bloß um eine gewisse Zeitspanne vorgezogen.
Während ich seine Schulter bearbeitet hatte, hatte er sich vor Anspannung auch noch die Oberlippe blutig gebissen; doch als ich ihm nun die kratzige Wolldecke, die bislang zusammengefaltet auf dem zweiten Bett in meiner Zelle gelegen hatte, um den Oberkörper legte, krallte er sich erst darin fest und dann kippte er nach vorne, mit dem Kopf gegen meine Brust. Einen Moment blieb ich so stehen, dann zog ich den bewusstlosen Körper aus dem Bad bis auf das zweite Bett.
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Nov/2093
General Fiction... fuck, Mädchen, du lebst - . . . In einem Bunker tief unter der Erde hört man die Schüsse nicht. In eine kleine Zelle gelangt keine Zeit. Aber der Schrecken, der macht keinen Halt vor Stahltüren. .