Kapitel 1: Vorspiel vor dem ganzen Theater

30 6 0
                                    

Der Tag war noch drückend heiß gewesen. Die Nacht aber brachte einen ersten Hauch von Frische mit sich. Es war Ende September und offiziell hatte der Herbst begonnen.  Allerdings mochte uns der Sommer, der lang und sehr heiß gewesen war, noch nicht so wirklich verlassen.

Begierig zog ich die kühlere Nachtluft ein, während ich langsam den Feldweg entlang schlenderte. Vor mir bellte Gaius, der Hund meines Bruders, auf den ich momentan aufpasste, vergnügt. Vermutlich jagte er eine Feldmaus.

Dieses Gassigehen hatte doch etwas für sich. Man kam vor dem Schlafengehen noch an die frische Luft und konnte seine grauen Zellen lüften. Die waren bei mir nämlich im Moment ziemlich verknotet. Die Lektüre der Klausuren meiner EFler hatte mich vorhin wirklich zur Weißglut getrieben. Körperlich mochte der größte Teil anwesend gewesen sein, geistig stellte ich allerdings in Frage. Auf alle Fälle kam ich dank dieses abendlichen beziehungsweise nächtlichen Spaziergangs noch einmal auf andere Gedanken, was hoffentlich meinem Schlaf förderlich war.

Ob Ben Gaius  am Wochenende wieder abholte?

Mein Bruder war momentan bis über beide Ohren beschäftigt und schaffte es nicht, sich vernünftig, um seinen Hund zu kümmern. Er arbeitete bei der Kriminalpolizei in Münster und war seit einer Woche mehr als gut beschäftigt. Früh morgens war ein Student über eine Leiche im Freihandmagazin der Universitäts- und Landesbibliothek gestolpert. Da der Leiche der Kopf fehlte, war ein natürlicher Tod auszuschließen, was wiederum Überstunden für das werte Bruderherz und seine Kollegen hieß und mich zum Hundesitter machte.

Ich pfiff nach Gaius, der auf der Jagd nach seiner Feldmaus inzwischen über ein abgeerntetes Feld raste. Es wurde langsam doch mal Zeit, den Heimweg anzutreten. Schließlich musste ich am nächsten Tag früh raus. Gaius reagierte aber nicht. Die Jagd über das Feld war einfach zu spannend. Also pfiff ich noch einmal. Wieder ignorierte mich der werte Herr Rüde. Ich musste meinem Bruder doch wirklich noch einmal den Besuch einer Hundeschule mit seinem Anhang nahelegen.

Zum Glück wusste ich mir zu helfen und steckte zwei Finger in den Mund. Bevor ich allerdings dazu kam, selbst zu pfeifen, erscholl hinter mir ein lauter und durchdringender Pfiff, der dazu führte, dass Gaius schon fast panisch auf mich zu gerast kam und sich an meine Beine schmiegte. Verwirrt drehte mich um und entdeckte noch einen Spaziergänger zu dieser späten Stunde. Es war zu dunkel, um zu erkennen, ob es sich um einen Mann oder eine Frau handelte, weil er aus der Reichweite meiner Kopflampe blieb. Nach dem Klang des Pfiffs tippte ich allerdings definitiv eher auf männlich.

Unwillkürlich drückte ich mich auch mehr an meinen tierischen Begleiter. Ich hatte genug Krimis und Thriller gelesen, um solchen nächtlichen Begegnungen skeptisch gegenüber zu stehen. Und normaler Weise war auf diesem Weg nachts wirklich nichts los. Wir befanden uns hier schließlich in Dackmar, einer Bauernschaft neben dem Mond gleich links. Während ich noch überlegte, ob ich die Beine in die Hand nehmen und rennen sollte, sprach er mich an: „Hallo. So spät noch unterwegs?"

Die Stimme war tief und hatte einen irgendwie unangenehmen Beiklang.  So hatte sich vermutlich Ted Bundy angehört, wenn er auf Opfersuche war. Ich tastete in meiner Hosentasche nach meinem Schlüsselbund. Seit dem Selbstverteidigungskurs, zu dem meine Mutter mich genötigt hatte, wusste ich, wie man anderen Menschen damit wehtun konnte. Langsam wich ich zurück, während sich meine Faust um die Schlüssel ballte. Der Mann schien stehen geblieben zu sein. „Fürchten Sie sich vor mir?" Ja, genau das tat ich, aber auf dem Weg einfach los zu sprinten, erschien mir wenig sinnvoll. Ich war nicht die weltgrößte Sportskanone und es bestand durchaus die Möglichkeit, dass er mich einholte. Es war aber nicht mehr weit, bis zu einem kleinen Waldstück, in dem ich mich dank einer Kindheit, die sich zum größten Teil an der frischen Luft abgespielt hatte, sehr gut auskannte und die Chancen gutstanden, ihn dort abzuhängen, falls er mir folgte. 

Rabenschwarze NächteWo Geschichten leben. Entdecke jetzt