Kapitel 6

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„Scheiße“, fluchte ich abermals laut in die Leere hinein.

Ich saß immer noch auf dem Boden und rupfte als Zeitvertreib das trockene Gras aus der Erde.

Ich guckte alle paar Sekunden auf meine Armbanduhr, als seien in dieser Zeit Stunden vergangen.

22:04 Uhr.

Man hörte hin und wieder leises Knistern und das Rascheln der Blätter in den Bäumen, dessen Geräusch mir eine Gänsehaut einjagte. Bis jetzt war hier noch kein einziges Auto langgefahren, selbst Tiere kamen mir noch nicht zu Gesicht, was vielleicht daran lag, dass es stockdunkel war.

Ich versuchte ein weiteres Mal Jenna anzurufen, aber wieder wurde ich nicht verbunden.

„Akku schwach – 4%“ erleuchtete auf dem Display und ich schluchzte in die Dunkelheit. Wüsste ich den Weg nach Hause würde mir diese unerträgliche Stille wohl gut tun, aber momentan plagten mich viel zu viele Gedanken, um die Leere auch nur ansatzweise genießen zu können.

Ich dachte an Ryan, wie er mit seiner verdammt vertrauensvollen Stimme gesagt hatte, dass ich mit Sicherheit alleine nach Hause finden würde.

Dann dachte ich an Jenna, wie sie mit ihrer Naivität bei wildfremden Menschen im Auto geblieben war, anstatt mit ihrer besten Freundin auszusteigen oder mich wenigstens überredet zu haben, wieder mitzufahren.

Dann dachte ich an Bennett, den netten Barkeeper, der die ganze Situation auf sich ruhen gelassen hat, anstatt sich einzumischen.

Ich schüttelte ratlos den Kopf, während das ständige Laufen meiner Tränen zur Gewohnheit wurde.

Auf einmal überströmte mich eine Welle voller Motivation, Wut und Energie, sodass ich aufsprang und mit den High Heels in der Hand immer weiter geradeaus rannte.

Ich lief so schnell wie noch nie in meinem Leben, aber ich konnte auch noch nie so schnell rennen wie jetzt, da ich nie auf einer Strecke war, die immer nur geradeaus verlief, ohne Kurven oder Hindernissen.

Irgendwann stolperte ich und fiel hin. Ich lag schweratmend im Gras und es hat sich verdammt nochmal nichts an der Umgebung verändert.

Da ich mit den restlichen 4% sowieso nichts anderes anstellen konnte, beschäftigte ich mich mit Apps und ging meine Bildergalerie durch, bis sich das Handy schließlich ausschaltete.

Jetzt war ich vollkommen mit der Dunkelheit umhüllt.

Irgendwann saß ich einfach nur da, mit dem Gefühl, dass ich noch nicht einmal denken würde. Ich wusste nicht, ob das so eine Art Halbschlaf war oder etwas anderes.

Ich wollte aufstehen und weiterrennen, als ich jemanden meinen Namen rufen hörte. Ich sprang auf und stellte fest, dass meine Füße schmerzten.

„NICOLE?“

Ich drehte mich um. War das Einbildung? Halluzinierte ich jetzt schon?

Plötzlich hörte ich ein Auto und kurz darauf Lichter und Stimmen, die immer lauter wurden.

„JA!“, schrie ich zurück und weinte noch mehr. „Ich bin hier!“, schluchzte ich. „JENNA!“

Ich lief, oder humpelte eher, in die Richtung der Stimmen.

Das Auto war stehen geblieben und raus gerannt kam Ryan, der Typ, den ich gerade am wenigsten sehen wollte, aber auch der Typ, dem das Auto gehörte.

Er rannte zu mir, starrte mich an, als sei er wütend, aber ich schätze, so sieht der Gesichtsausdruck bei Männern aus, wenn sie besorgt sind.  „Scheiße, Nicole, geht’s dir gut?“ Er hielt meine Wange fest. Seine Hand war total warm. Oder war mir nur kalt?

Wer, wenn nicht du?Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt