Achtundzwanzig.

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In diesem Moment machte sie alles wütend. Der verwirrte Ausdruck auf seinem Gesicht. Die Tatsache, dass er einfach nicht antwortete. Aber allen voran, dass er sowohl 900 Jahre älter als auch einen Kopf größer als sie war und es Kol so viel zu leicht fiel, Cecilia an die gegenüberliegende Wand zu drücken. Vorsichtiger als sie es getan hatte. Nicht einmal das Bild, das die Blümchentapete zierte, wollte wackeln. Das machte sie noch wütender und sie wollte in diesem Moment eigentlich nichts lieber tun, als ihn in sein viel zu perfektes Gesicht zu schlagen.
"Lass mich los!", fauchte sie und versuchte sich aus seinem Griff zu befreien.
"Wenn du mir dann erklärst was zur Hölle gerade in dich gefahren ist, gerne", meinte er immer noch ehrlich verwirrt, aber trotzdem um eine ruhige Ausstrahlung bemüht.
Cecilia funkelte ihn böse an, nickte aber trotzdem, sodass er ihre Hände loslies und einen Schritt zurück ging. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. "Meine Frage steht."
"Ich weiß nicht, wie du das meinst, aber vielleicht-"
"Du kannst meinen Zweitnamen nicht kennen."
Wenn der Urvampir vorher bereits verwirrt gewesen war, musste er nun vor Verwirrung vergessen haben, wie man vollständige Sätze bildet. "Was?"
"Du hast dich gestern bei mir mit meinem vollen Namen bedankt. Cecilia Lilian Salvatore. Den Namen Lilian habe ich das letzte Mal 1980 verwendet. Und da auch nur als Vornamen. Als Zweitname existiert er seit meiner Verwandlung nicht mehr. Wir sind uns vor nicht mal einer Woche begegnet, woher kennst du also meinen menschlichen Namen?"
Sie hatte sich bereits die letzte Nacht darüber den Kopf zerbrochen und war jetzt wirklich auf die Antwort gespannt.
Kol schluckte. Am liebsten hätte er sich selbst geohrfeigt. Um dies zu vermeiden, platzte er mit der ersten Antwort, die ihm halbwegs plausibel erschien, hervor: "Ich war im Rathaus. Da hängt die Urkunde vom ersten Gründerball. Der Name Salvatore ist nicht unbedingt häufig. Besonders nicht in Verbindung mit deinem Namen und denen deiner Brüder."
Das war zumindest nicht ganz gelogen. Dass er das Rathaus das letzte Mal vorletztes Jahrhundert von Innen gesehen hatte, brauchte sie nicht zu erfahren. Cecilia schien nicht überzeugt. Wie auch? Er selbst hätte sich ebenfalls kein einziges Wort abgekauft. Allerdings schien ihr auch kein Gegenargument einzufallen.
"Du willst mich für dumm verkaufen, oder?", fragte sie ihn, nicht mehr ganz so aufgebracht, wie noch vor wenigen Minuten. Zeit zu antworten lies sie ihm trotzdem nicht. "Woher weißt du von der Karte?"
"Du- du hast mir von ihr erzählt?", meinte er, erneut verwirrt darüber, in welchen Lügen er sich denn noch verstrickt hatte.
"Ich hab dir von der Karte erzählt, das stimmt. Aber nicht, was sie zeigt, trotzdem hast du das komischerweise ziemlich gut erraten. Und warst, nur mal so ganz nebenbei erwähnt, auch sofort dabei. Das ergibt doch überhaupt keinen Sinn! Ich hab deiner Familie öfter den Tod gewünscht, als ich zählen kann! Warum also, Kol, bist du bereitwillig mit hierhergekommen? Und halt mich verdammt nochmal nicht zum Narren!"
"Ich will dich nicht für dumm verkaufen und erst recht hab ich keine Intention dich zum Narren zu halten. Aber ich glaube, dass du wirklich paranoid bist, kann das sein?", wich er ihrer Frage aus, denn dieses mal wollte ihm so schnell keine Antwort einfallen. Ehe sie antworten konnte, fuhr er fort, in der Hoffnung, dass sie ihre ursprüngliche Frage irgendwie vergessen würde, wenn er sie nur lange genug zutextete. Dennoch, er meinte jedes Wort so, wie er es sagte.
"Nicht nur ich hab einfach jemandem zugesagt, in den übernächsten Bundesstaat zu fahren. Du hast mich in allererster Linie gefragt, ob ich mitkomme. Und wie du schon gesagt hast: Du hast meiner Familie schon so oft den Tod gewünscht. Ich will gar nicht wissen, wie oft ihr schon versucht habt Nik zu töten und trotzdem bin ich hier. Aus freien Stücken, aber weil du mich gefragt hast. Warum? Ich glaube, weil du unglaubliche Probleme hast Leuten zu vertrauen. Wann hast du das letzte Mal jemandem außer deinen Brüdern vertraut?"
Er hatte Angst vor der Antwort. Was auch immer sie sagen würde, er wusste, er war daran Schuld.
Jetzt war es an ihr, seiner Frage auszuweichen. Sie verschränkte die Arme vor der Brust. Unmerklich war sie einen Schritt von ihm zurück gewichen. "Menschen haben genauso wie Vampire die Angewohnheit zu lügen, wann immer es ihnen in irgendeiner Weise einen Vorteil verschafft. Ich vertraue niemandem, nicht mal meinen Brüdern."
"Das ist 'ne ziemlich scheiß Lebenseinstellung, hat dir das schon mal jemand gesagt?"
"Und wenn dem so wäre?", konterte Cecilia, die verschränkten Arme jetzt noch näher an ihrem Körper.
"Du musst doch manchmal irgendjemandem vertrauen? Wovor hast du solche Angst?"
Für einen Moment dachte Kol, sie würde wirklich vor ihm zusammenbrechen, die Tränen herauslassen, die sich über Jahrzehnte angestaut haben. Dann war der Moment vorbei und ihr Gesicht versteinerte sich wieder, während sie die Augen zusammenkniff. "Warum interessiert dich das überhaupt so?"
Seine Stimme hatte kaum Lautstärke. "Weil ich dich mag, Cecilia, ich mag dich wirklich."
Das Mädchen hingegen lachte tonlos, schüttelte den Kopf und strich sich eine Strähne aus dem Gesicht.
"Na das ist ja großartig. Ich wollte gerade sagen, dass du dich darauf verlassen kannst, dass dich deine Feinde immer verraten werden und sie irgendwo immer ersetzbar sind, weil du keine emotionale Bindung zu ihnen aufbaust. Freunden hingegen kannst du nicht vertrauen. Irgendwann verraten sie dich alle. Aber das spar ich mir jetzt wohl besser, was?", meinte sie und zwang sich zu einem schiefen Lächeln.
Eine Weile sah er sie bloß eindringlich an und sagte nichts. Kurz bevor sie das Starren als unglaublich unangenehm empfand, mimte er ihr Kopfschütteln. "Warum vermutest du an jeder Ecke Feinde und Verrat? Cecilia, ich bin nicht dein Feind und ich bin kein Lügner. Egal, was meine Familie für Fehden führt!"
"Du stellst zu viele Fragen, Kol Mikaelson. Die bringen dich noch um. Aber wenn du's genau wissen willst: Ich habe seit einhundertfünfzig Jahren nichts anderes als Verrat und Feindschaft erlebt. Jedes gottverdammte Wesen auf diesem gottverdammten Planeten ist ein gottverdammter Lügner. Ohne Ausnahme. Je eher du das in deinen Dickschädel bekommst, desto früher kannst du mit dir selbst im Reinen sein."
Er antwortete nicht. Ihm fiel nichts ein. Sie erwartete das auch gar nicht. Bevor die Stille sie erdrücken konnte, flüsterte sie. "Ich hol die Karte. Je eher wir wieder zurück nach Mystic Falls kommen, desto besser."
Sie verschwand in dem Schlafzimmer und kämpfte heftig gegen ihren Nervenzusammenbruch an. Das schlimmste für Cecilia war nicht, dass er ihre Fragen nicht beantwortet hatte. Das Schlimmste war, dass er mit seinen eigenen Fragen voll ins Schwarze getroffen hatte.
Während sie an der Tür herunterrutschte und sich schwer atmend vom Weinen abhielt, fragte sich Kol auf der anderen Seite zum ungefähr eintausendsten Mal in dieser kurzen Zeit, was zur Hölle er angerichtet hatte.

Anomalia ||Kol Mikaelson||Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt