Kapitel 5

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Am nächsten Morgen brauchte mein Kopf eine Weile, um die Geschehnisse der letzten Nacht zu verarbeiten. Verträumt summend tanzte ich durchs Zimmer und die Tür hinaus bis hinunter in die Küche, wo ich wie angewurzelt stehen blieb. Alma starrte mir entgegen, die Hand an ihrem Pulverbeutelchen.

„Hattest du eine angenehme Nacht?"

Ich nickte langsam.

Gemächlich kam sie auf mich zu. „Und dein Waldgeist, wann siehst du den wieder?"

Ich verschluckte mich beinahe. „Mein was?"

„Du hast mich schon gehört." Lächelnd tätschelte sie meine Wange. „Ich habe sofort gewusst, dass er es war. Damals, vor 40 Jahren wusste ich es nicht, aber er sieht immer noch genauso aus. Um keinen Tag gealtert."

Ich wich einen Schritt vor ihr zurück. „Wovon redest du?"

„Silvan... So nennt er sich doch, nicht wahr? Eine meiner Freundinnen hat ihn einmal zum Osterfest mitgebracht, ein stattlicher Bursche, den niemand jemals zuvor gesehen hatte. Er hat mit ihr getanzt, wie er mit dir getanzt hat. Er hat sie geküsst, wie er dich küsst. Ich will nicht wissen, was er noch alles mit ihr gemacht hat. Danach haben wir ihn nie wiedergesehen und Anna war am Boden zerstört. Das machen Geister mit Menschen. Sie benutzen sie, um ihre Langeweile zu vertreiben und lassen sie dann zurück, damit sie sich für den Rest ihres Lebens wundern können, ob das nicht alles ein Traum gewesen ist.

Und wie viel besser es wäre, wenn es tatsächlich ein Traum gewesen wäre. Aber es ist keiner. Und während du jetzt vielleicht noch denkst, dass du etwas Besonders bist, wirst du doch bald nachhause zurückkehren und ihn nie wiedersehen. Wenn er sich nicht vorher dazu entschließt, dich zu verlassen. Vielleicht schläft er ja vorher noch mit dir. Ist das nicht das, was ihr jungen Leute tut? Miteinander schlafen und euch dann nie wiedersehen? Ein One-Night-Stand?"

Ich holte tief Luft. Ich hatte nicht einmal gemerkt, dass ich während ihrer Rede kein einziges Mal geatmet hatte.

Alma trat wieder dicht vor mich. „Wenn er dich wieder besucht, frag ihn. Frag ihn, wie viele Mädchen er schon hatte. Wie lange er ein Mädchen behält, bevor es ihm zu langweilig wird und er sich anderweitig umsieht." Sie drückte mir ihren Pulverbeutel in die Hand. „Frag ihn das und wenn dir die Antwort nicht gefällt, gib ihm eine ordentliche Prise davon. Das wird ihn lehren, die Finger von jungen Mädchen zu lassen."

Damit ließ sie mich stehen und verschwand nach draußen in den Garten. Schwer atmend fiel ich auf die Knie und starrte ihr hinterher. In meinem Kopf drehten sich die Gedanken im Kreis, Minute um Minute, bis nur noch ein Gedanke übrigblieb. Ich musste mit Silvan reden.

Die Gelegenheit ergab sich am Nachmittag, als meine Mutter mit Mara und Alma ins Dorf spazierte. Ich blieb zurück, mit der Ausrede, Kopfschmerzen zu haben. Almas wissender Blick verpasste mir eine meterdicke Gänsehaut.

Mit Schwung pfefferte ich den Beutel mit dem Pulver in eine Ecke. Glaubte sie wirklich, ich würde Silvan vergiften, selbst wenn ich für ihn nichts weiter als ein Zeitvertreib war? So eine Person war ich nicht.

Stattdessen schüttete ich die Himbeerbonbons, die ich vor ein paar Tagen im Nachbarort gekauft hatte in ein Stofftuch und steckte sie mir in die Hosentasche. Silvan gab mir immer so viel, diesmal wollte ich ihm auch etwas geben, selbst wenn es nur eine Handvoll Bonbons waren.

Wieder erwartete mich die Wölfin, als ich den Wald betrat. Kurz streichelte ich über ihr Fell, dann schickte ich sie vor, um mir den Weg zu zeigen. Wie am ersten Tag führte sie mich zu der grasbedeckten Anhöhe, von der aus man das Dorf sehen konnte und es dauerte nicht lange, bis ein Windhauch Silvans Anwesenheit ankündigte.

Waldgeister ✔Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt