Siebzig Jahre später
Ich spürte es. Die Schwere in meinen Gliedern war schon seit einigen Jahren nicht mehr zu leugnen, doch in den letzten Tagen hatte es sich anders angefühlt. Ich wusste, was das für mich bedeutete.
Schwerfällig schob ich mich aus dem Bett, zog mich an der Wand entlang in die Küche und von dort nach draußen. Es war mitten in der Nacht, der Vollmond schien hell auf mich herunter. Lächelnd erinnerte ich mich an die erste Nacht, in der er mich zu sich geholt hatte.
Silvan, mein Waldgeist. Mein Gefährte seit siebzig Jahren. Es brach mir das Herz, dass ich ihn jetzt bald verlassen musste.
Ich kam noch keine zwei Schritte weit, als sich weiches Fell unter meine Hand schob und mich stützte. Eine Wölfin, nicht dieselbe von damals, sondern ihre Enkelin, führte mich gemächlich zur Waldgrenze. Kaum hatte ich sie erreicht, stand er vor mir.
Mir zuliebe war sein Gesicht älter, so dass ich mich in der Illusion verlieren konnte, dass wir tatsächlich zusammen gealtert waren, obwohl er niemals alterte.
„Hallo, meine Wölfin." Er begrüßte mich mit einem liebevollen Kuss.
„Hallo, Waldgeist. Bringst du mich noch einmal nach oben?"
Seine Augen verdunkelten sich, als er begriff, was das bedeutete. „Natürlich, meine Schöne."
Nur eine Berührung genügte und wir standen wieder oben auf der Göttersäule, meinem Lieblingsort im ganzen Wald. Seine warmen Arme schützten mich vor der Kälte und auch wenn ich nichts weiter als ein Nachthemd trug, war mir keine Sekunde kalt.
„Es ist so weit, Silvan", flüsterte ich leise. „Du weißt, dass es so ist."
Sein Kinn ruhte auf meinem Scheitel. „Ja, ich kann es spüren."
Verzweifelt schloss ich die Augen. „Ich will dich nicht verlassen. Nicht, wenn das bedeutet, dass du allein zurückbleiben musst."
„Das wird er nicht", ertönte eine sanfte fremde Stimme hinter uns.
Wir fuhren herum und Silvans Augen weiten sich merklich, bevor er auf die Knie fiel. „Willkommen, Mutter."
Mutter? Schwerfällig ging auch ich vor der kleinen Frau auf die Knie.
„Nicht doch, meine Liebe."
Zwei kleine Hände halfen mir wieder auf die Füße. „Ich sollte mich bei dir bedanken, kleine Wölfin. Du hast meinen Sohn aus seiner Einsamkeit befreit und dafür will ich dich belohnen. Ich werde dir einen Wunsch erfüllen." Sternenaugen lächelten liebevoll auf mich herab. Ihr langes blondes Haar floss sanft um ihren kleinen Körper herum.
„Egal welchen?"
Sie nickte lächelnd. „Alles, was du willst."
Ich streckte meine Hand nach Silvan aus und er ergriff sie, um sie mit seinen Lippen zu berühren. „Dann wünsche ich mir, dass ich bei Silvan bleiben kann. Für immer."
Die Frau nickte bedächtig. „So sei es."
Ein kräftiger Wind hob sich und schoss um mich herum, immer schneller und schneller. Silvans Hand entglitt mir. Von allen Seiten riss es an mir, schmerzhaft. Solche unvorstellbaren Schmerzen. Ich schrie und hörte Silvan meinen Namen rufen.
Dann wurde es schwarz um mich herum.
Als ich die Augen öffnete, war alles hell. Die Sonne schien, Vögel sangen und Silvans helle Augen leuchteten auf mich herunter.
Langsam setze ich mich auf. Ich fühlte mich leicht, wie eine Feder im Wind. Mein Blick fiel auf meine Hände und ein Schluchzen entwich mir. So jung.
„Wie fühlst du dich?" Sternenaugen musterten mich liebevoll.
„Was hat sie mit mir gemacht?"
Er lächelte und nahm meine Hand, um sie zu küssen. „Sagen wir es mal so. Es gibt jetzt zwei Geister in diesem Wald."
Mit großen Augen starrte ich ihn an. „Ich bin ein Geist?"
„Ein Waldgeist, ja."
„Und ich bin wieder jung!" Lachend sprang ich auf. „Kann ich fliegen, so wie du?"
„Vermutlich kannst du alles, was ich auch kann." Grinsend nahm er meine Hand und zog mich zum Rand des Felsens. „Willst du es ausprobieren?"
Statt zu antworten zog ich ihn mit mir über die Kante. Wir fielen, doch ich spürte den Wind um mich herum, er war ein Teil von mir. Es war leicht, den Wind zu kontrollieren. Es war, als hätte ich nie etwas anderes getan.
Zusammen schossen wir durch den Wald, hinauf auf den Gipfel des Berges und noch höher bis über die Wolken. Hier konnte ich es sehen, das Leben, das ich führen würde. Ein aufregendes Leben in Silvans Wald.
Das einzigartigste Leben in unserem Wald. Bis in alle Ewigkeit.
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Uuuund Ende ♥
Kurze Geschichte, mit kurzem Ende. Ich hoffe, ihr hattet mit Waldgeister genauso viel Spaß, wie ich. Vielleicht gibt es irgendwann einmal eine Fortsetzung, aber momentan ist die Geschichte für mich abgeschlossen.
Ich hoffe auch, ihr bleibt mir treu und lest auch fleißig weiter die Geschichten, die ganz sicher noch folgen werden.
Liebe Grüße und bis bald, meine Wölfchen ♥
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Waldgeister ✔
FantasíaEin Urlaub in den Bergen. Ein geheimnisvoller Mann im Wald. Nachdem Ylvie im Wald einem fremden Mann begegnet, stolpert sie mit jeder Begegnung tiefer in eine Geschichte, die den Lauf ihres Lebens für immer verändern wird.