Kapitel 6.1

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Ich verschob das Gespräch. Alma hatte es nicht verdient, dass ich mich vor ihr für Silvan rechtfertigte. Schließlich war das hier keine Blitzbeziehung, sondern etwas anderes, Tieferes. Etwas, das es schaffte, mich von Grund auf zu erschüttern und mein Herz zum Rasen zu bringen.

Silvan und ich trafen uns an jedem einzelnen Tag, mal morgens, mal nachmittags, mal nachts. Ich wartete stets darauf, dass er mich holen kam, schließlich war er derjenige mit den Pflichten und ich diejenige mit dem Urlaub. Die meiste Zeit verbrachten wir im Wald, aber ab und zu, wenn Alma zuhause blieb, begleitete er meine Mutter, Mara und mich bei unseren Ausflügen.

So auch drei Tage vor meiner Abreise. Wir wanderten zu viert durch den Wald, was Silvan ziemlich zu amüsieren schien, da er immer wieder so tat, als bemerkte er nicht, wenn wir einen falschen Weg einschlugen. Er rätselte dann mit uns, wo wir am besten langgehen konnten, um den richtigen Pfad wiederzufinden. Wir waren schon fast an der Baumgrenze angekommen, als er die Frage stellte, vor der ich mich gefürchtet hatte.

„Was macht eigentlich dein Mann, Birte?"

Ich blieb wie angewurzelt stehen, sodass Mara in mich hineinlief und sich dann fluchend an mir vorbeischob.

„Mein Mann ist Projektleiter beim Bau des neuen Staudammes."

„Ein neuer Staudamm?"

Ich erkannte schon am Klang seiner Stimme, dass sich seine Stimmung drastisch verändert hatte.

Meine Mutter nickte. „Ja, anscheinend ist der alte recht marode und sowieso reicht das Wasser nicht mehr für das ganze Dorf."

„Davon hat Ylvie mir gar nichts erzählt." Sein düsterer Blick schoss zu mir und ich zuckte ungewollt zusammen.

Ich konnte nichts weiter tun, als seinen Blick zu erwidern. Ja, ich hatte es ihm verheimlicht, in der Hoffnung, es würde unserer Beziehung nicht schaden. Möglicherweise hätte ich es ihm früher sagen sollen.

„Sie sind inzwischen fertig mit der Planung", erklärte meine Mutter. „Heute sehen sie sich den Damm aus der Nähe an."

Ich riss die Augen auf. „Was? Sie sind fertig?" Das war mir neu. Wenn sie fertig waren, würden sie in den nächsten Tagen mit dem Ausbau beginnen.

Silvan biss die Zähne zusammen. „Ich glaube, ich habe noch etwas Wichtiges vor. Bitte entschuldigen Sie, dass ich Sie nicht weiter begleiten kann." Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und marschierte quer in den Wald hinein.

„Nanu?" Meine Mutter sah mich überrascht an, doch ich konnte an nichts anderes als Silvans Wut denken.

Gott, was auch immer er vorhatte, es war nichts Gutes. Hastig ließ ich meinen Rucksack fallen und rannte ihm hinterher. Ich stolperte und sprang Abhänge hinunter, auf der Suche nach Silvan. Es war ein Wunder, dass er noch seine Menschengestalt trug, als ich ihn erreichte.

„Silvan!"

Wutentbrannt fuhr er zu mir herum. „Wann hattest du vor, mir davon zu erzählen? Ein Staudamm? Weißt du, was das für den Wald bedeutet?"

„Er ist nötig!"

„Oh nein, ist er nicht. Mein Wald braucht keinen Staudamm!"

„Dein Wald vielleicht nicht, aber die Menschen schon! Ja, er wird größer sein, als er letzte. Und vermutlich wird es die übrigen Wasserströme im Wald beeinflussen. Die Menschheit wächst stetig, auch das Dorf."

Er packte mich am Arm und mit einem Mal standen wir vor dem Bauernhaus. Es störte ihn nicht, dass Alma uns vom Hühnerstall aus mit großen Augen anstarrte. „Du bleibst hier. Wir unterhalten uns später."

„Nein! Bleib hier! Silvan!" Doch er hatte sich schon in Luft aufgelöst.

Ich rannte auf Alma zu, die schon ihren Beutel in der Hand hielt. „Du musst mich zum Staudamm fahren. Sofort!"

„Unmöglich. Die Bauarbeiten haben eben begonnen. Sie lassen niemanden in die Nähe!"

Ich packte sie an den Schultern und schüttelte sie. „Sofort! Ich weiß nicht, was Silvan tut, wenn ich ihn nicht aufhalte!"

Ihre Augen weiteten sich und wenige Minuten später bretterten wir in ihrem alten Kombi die schmalen Straßen entlang in Richtung Staudamm. Wachmänner am Zaun winkten uns auf die Seite, aber ich spornte Alma an und während die Männer noch aus dem Weg hechteten, war ich schon aus der Autotür heraus und durch die Tür gerannt.

„Halt sie auf, Alma!", schrie ich zurück und tatsächlich versperrte sie den Männern den Weg, bis ich durch die Bäume brach und der gigantische Staudamm vor mir lag. Doch er war es nicht, der mir das Blut in den Adern gefrieren ließ, sondern das gigantische schwarze Monster, das sich aus dem Wasser aufrichtete und sich über die Gruppe Männer beugte, die auf einer Aussichtsplattform stand. Wie schwarzer Nebel waberte das Ungetüm aus dem Wasser und glühend rote Augen fixierten die Menschen unter ihm

„Nein!", schrie ich aus vollem Hals und rannte wieder los. „Silvan! Hör auf! Lass sie in Ruhe!"

Die Männer begannen zu schreien. Schreie der Angst, so grell und grauenvoll, dass ich selbst Angst bekam.

„SILVAN!", kreischte ich erneut. Ich hatte gerade einmal die Hälfte des Weges zurückgelegt und wenn es so weiterging, würde ich nicht mehr rechtzeitig ankommen.

Ich legte noch einen Zahn zu. Schon in der Schule war ich nie gut im Ausdauersport gewesen, aber jetzt kam es nur darauf an, wie schnell ich laufen konnte.

„SILVAN! HÖR AUF!" Fast da. Nur noch ein paar Meter.

Ich sah, wie sich seine Schultern hoben, als es tief Luft holte und landete mit einem großen Satz mitten auf der Aussichtsplattform. Für einen Moment hörten die Schreie um mich herum auf.

„STOOOOOOOOOP!" Mein Schrei durchschnitt die plötzliche Stille und tatsächlich hielt das Monster mitten in der Bewegung inne. „HÖR AUF!", schrie ich zu ihm hoch.

Langsam beugte es seinen Kopf zu mir herunter und seine glühend roten Augen fixierten mich. Das war es also, was Almas Vater damals gesehen hatte. Das reine Grauen. Und doch, weit hinten im rot versteckt, glaubte ich das sanfte Waldgrün zu sehen, das ich so sehr liebte. Die Männer und Frauen um mich herum begannen wieder zu wimmern.

Sehr vorsichtig hob ich eine Hand und berührte das Maul des Monsters. „Silvan, bitte, komm zur Vernunft. Ich weiß, dass du deinen Wald beschützen willst. Ich verstehe das, wirklich. Aber diese Menschen hier wollen auch ihr zuhause beschützen. Wenn du diesen Damm zerstörst, wird das Wasser das ganze Tal fluten. Millionen Liter Trinkwasser werden einfach verschwunden sein. Sie brauchen diesen Damm.

Bitte, komm da raus. Ich bringe dich zu meinem Vater und ihr könnt verhandeln. Es muss eine Lösung geben."

Ich schloss die Augen und lehnte meine Stirn gegen die raue Haut. „Bitte, Silvan."

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Soooooooo, erster Teil des letzten Kapitels. 

Wird Silvan ihr zuhören oder ein Unheil anrichten? Wer weiß, wer weiß...

Irgendwie ging das schneller, als ich dachte. Aber keine Sorge, es kommt auch noch ein Epilog. Also zwei Wochen haben wir noch, bis wir uns von Ylvie und Silvan verabschieden müssen :(

Liebe Grüße, meine Wölfchen ♥



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