Als ich am nächsten Morgen aufwachte, befand ich mich nicht mehr auf dem Felsen und auch nicht in meinem Bett. Stattdessen lag ich am Rande des Waldes im Gras, eine leichte Stoffdecke über mir. Verwirrt richtete ich mich auf und sah mich um. Silvan war wieder nirgendwo zu sehen und auch der Schimmel und die Wölfin waren nicht da. Nur wenige hundert Meter entfernt stand das Bauernhaus, in dem wir wohnten.
Kaum war ich in die Küche getreten, kam mir Mara schon entgegengelaufen, blieb dann aber wenige Meter vor mir stehen. „Wie siehst du denn aus? Hast du dich im Wald gewälzt?"
Erschrocken fasste ich mir an den Kopf und zog prompt ein Ästchen heraus. „Ich glaube, ich bin schlafgewandelt."
Mara kicherte. „Na, besser als dass du mitten in der Nacht von einem Waldgeist entführt wirst."
Schon auf dem halben Weg ins Bad drehte ich mich zu ihr um. „Was hast du gesagt?"
„Alma hat eben davon erzählt. Sie meint, im Wald lebt ein Waldgeist, der junge Mädchen in der Nacht entführt."
Mit großen Augen starrte ich sie an. „Was hat sie noch gesagt?"
„Dass er unglaublich gut aussieht, damit die jungen Mädchen mit ihm kommen." Sie zwinkerte mir zu.
„Aber was macht er mit den Mädchen?"
„Er nimmt sie mit in seine Höhle, stopft sie voll und frisst sie dann gut gebraten." Ihre Augen nahmen einen irren Ausdruck an, bevor sie in Gelächter ausbrach. „Du müsstest mal deinen Gesichtsausdruck sehen!"
Ich schluckte und zwang mich zu einem Lächeln. „Ha. Ha. Sehr witzig, Mara."
Bevor sie mir weitere Geschichten auftischen konnte, verschwand ich ins Bad um bei einer ausgiebigen Dusche den Wald aus meinen Haaren zu entfernen. Beim Abtrocknen fiel mein Blick auf die Stoffdecke, unter der ich aufgewacht war. Nachdenklich nahm ich sie in die Hand und drückte mein Gesicht hinein. Sie roch so stark nach Wald und Silvan, dass ich für einige Sekunden nichts anderes tun konnte, als den Duft zu inhalieren. Eindrücke von letzter Nacht stürmten auf mich ein. Die Wölfin im dunklen Wald, das Dorf am Fuß des Berges, unser Ritt durch die Nacht und der Sternenhimmel über der Göttersäule. Silvans Hand in meiner, mein Kopf auf seiner Schulter, seine Wärme, die mich vor der Kälte schützte. Irgendwann musste ich eingeschlafen sein, denn ich erinnerte mich weder daran, wie wir von der Göttersäule heruntergekommen waren, noch wie ich an den Waldrand gekommen war.
Ich musste wieder an Maras Worte denken. Ein Waldgeist, der nachts Mädchen entführte. Der Sprung zur Göttersäule war meiner Meinung nach für ein Pferd mit zwei Reitern nicht möglich. Und zurück erst recht nicht. Wo sollte der Schimmel Anlauf genommen haben? Vielleicht war da tatsächlich Magie im Spiel.
Plötzlich wurde die Tür aufgerissen und ich ließ die Decke hastig hinter meinem Rücken verschwinden. Meine Mutter starrte mir entgegen, die Augen leuchtender als üblich.
„Ylvie, da bist du ja. Euer Vater und ich werden heute eine kleine Tour unternehmen, nur wir beide. Alma hat sich einverstanden erklärt, euch ein wenig im Auge zu behalten. Ist das okay für dich?"
Ich nickte eilig. Alles, was meiner Mutter half, sich wieder besser zu fühlen, war mehr als okay für mich. Sie lächelte erleichtert und drückte mir einen Kuss auf die Stirn. „Danke, mein Schatz. Wir sehen uns heute Abend."
Alma, unsere Wirtin, wartete unten bereits mit ein paar Arbeitsaufträgen auf uns, bei denen wir ihr gerne zur Hand gingen. Während Mara im Haus bleiben würde, hatte sie mir eine Liste mit Sachen überreicht, die sie aus dem Wald brauchte. Pilze, Reisig und bestimmte Kräuter. Für alles hatte sie ein passendes Bild dazugelegt, damit ich die Pflanzen ohne Zweifel identifizieren konnte.
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Waldgeister ✔
ФэнтезиEin Urlaub in den Bergen. Ein geheimnisvoller Mann im Wald. Nachdem Ylvie im Wald einem fremden Mann begegnet, stolpert sie mit jeder Begegnung tiefer in eine Geschichte, die den Lauf ihres Lebens für immer verändern wird.