Als Mara am nächsten Morgen aufwachte, konnte sie sich an nichts mehr erinnern. Weder an meinen Ausritt auf einem gigantischen Wolf, noch ihr Beerendilemma mitten im Wald. Ich war wirklich erleichtert darüber, denn ich hatte keine Ahnung, was ich getan hätte, wenn sie mich danach gefragt hätte.
Während unsere Eltern den ganzen Tag unten im Dorf verbrachten, blieben wir oben bei Alma und bastelten lange Dekoketten aus Blättern, Tannenzapfen und Beeren. Sie erzählte uns, wie ihr Vater einmal dem Geist des Waldes begegnet war. Als junger Mann war er mit seinen Freunden in den Wald gegangen, um Wild zu jagen. Statt eines ausgewachsenen Hirsches hatten sie allerdings ein kleines Rehkitz erwischt. In dem Moment, in dem das Herz des Kitzes aufgehört hatte zu schlagen, erschien ein gigantisches Monster vor ihnen, mit leuchtend roten Augen und einem Atem, der nach Schwefel stank. Sie alle waren geflüchtet, ohne ihre Beute mitzunehmen und waren seither kein einziges Mal mehr im Wald auf die Jagd gegangen.
Zwar hatte ich Silvan bisher nie wütend erlebt, aber ich zweifelte nicht daran, dass er den Wald durchaus zu verteidigen wusste. Ich wollte gar nicht so genau wissen, was die Menschen über die Jahre schon alles getan hatten, ohne daran zu denken, wie sehr sie dem Wald und seinen Bewohnern dadurch schadeten. Mein Vater mit seinem Projekt für den Neubau des Wasserdammes war da vermutlich gleich vorne mit dabei. Diesmal sollte er größer und höher werden und dafür sollte natürlich das Gebiet in einem Umkreis von einem Kilometer gerodet werden.
Natürlich war mir klar, dass die Menschen hier den Staudamm brauchten, aber gleichzeitig fürchtete ich mich auch ein wenig vor Silvans Reaktion, sollte er herausfinden, was mein eigener Vater hier trieb.
Alma beugte sich dichter zu uns und flüsterte verschwörerisch: „Solltet ihr ihm jemals begegnen, dann nehmt euch etwas aus Kunststoff zur Hand. Er verträgt solche unnatürlichen Materialien nicht, sie können ihm sogar kurzzeitig ernsthaft schaden." Sie klopfte leicht auf den Beutel, den sie immer um die Hüfte trug. „Zur Sicherheit habe ich immer ein wenig zermahlenes Plastik bei mir. Ein bisschen in die Augen und er ist für einige Stunden blind."
Ich starrte sie entsetzt an. „Was?"
„Der Waldgeist ist gefährlich, Ylvie. Jedem, der ihn auf irgendeine Weise verärgert, wird es schlecht ergehen. Unsere Jäger waren schon immer erschreckend anfällig für fast-tödliche Unfälle. Dieser Geist ist eine reine Plage."
Ich sprang auf. „Das ist doch nicht wahr! Der Waldgeist schützt den Wald! Wie könnt ihr glauben, dass er nicht wütend ist, wenn ihr gewissenlos Tiere jagt und ganze Flächen rodet?"
Alma hob die Augenbrauen und musterte mich düster. „Du redest, als wärst du ihm bereits begegnet."
Ich starrte sie einen Moment lang an und setzte mich dann langsam wieder auf meinen Stuhl. „Unsinn. So etwas wie Waldgeister gibt es nicht", erklärte ich wesentlich ruhiger als zuvor.
Almas Blick brannte auf mir und ich wagte es nicht, noch einmal von meiner Kette aus Beeren und Blättern aufzusehen.
„Ich glaube an den Waldgeist!" Fröhlich spießte Mara eine Beere auf.
Lächelnd tätschelte Alma ihren Kopf, doch nur wenige Sekunden später beobachtete sie mich wieder. Ich nahm mir vor, in Zukunft Alma gegenüber sehr vorsichtig zu sein. Auch wenn sie auf den ersten Blick nicht so wirkte, konnte sie sehr angsteinflößend sein. Ich würde auch Silvan heute Abend vor ihr warnen müssen. Sicher ist sicher.
Der Marktplatz war gefüllt mit Menschen. Gefühlt jeder Einwohner des kleinen Dorfes und die wenigen Touristen waren hergekommen, um das Sonnwendfeuer zu entfachen und gemeinsam bis tief in die Nacht zu feiern. Nun ja, alle bis auf einen.
Die Feier war schon seit Stunden in vollem Gange, doch von Silvan fehlte jede Spur. Ob ihm etwas dazwischengekommen war?
Ich sah mich um. Alma war noch hier und unterhielt sich angeregt mit einer Gruppe älterer Damen, mein Vater und die meisten seiner Arbeitskollegen waren ebenfalls hier. Was konnte ihn nur aufgehalten haben?
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Waldgeister ✔
FantasyEin Urlaub in den Bergen. Ein geheimnisvoller Mann im Wald. Nachdem Ylvie im Wald einem fremden Mann begegnet, stolpert sie mit jeder Begegnung tiefer in eine Geschichte, die den Lauf ihres Lebens für immer verändern wird.