„Bitte, Silvan."
Die Haut an meiner Stirn veränderte sich langsam, wurde weicher und wärmer. Langsam öffnete ich die Augen und sah in die Sternenaugen des Waldgeistes. Tränen der Erleichterung und Erschöpfung liefen mir heiß übers Gesicht. Eine einzelne Träne bahnte sich auch ihren Weg über Silvans Wange. Sachte strich ich sie weg und wischte mir dann mit dem Ärmel über mein eigenes Gesicht.
„Danke."
„Dank mir nicht zu früh", hauchte er mir zu. „Wo ist dein Vater?"
„Ylvie?", hörte ich die zittrige Stimme meines Vaters hinter mir.
„Da ist er."
Silvan sah an mir vorbei und löste seine Stirn von meiner. Ich wollte nach seiner Hand greifen, ich wollte ihn berühren, aber ich fürchtete mich davor, dass er mir seine Berührung verwehren würde. Deshalb atmete ich nur einmal tief ein und drehte mich dann zu meinem Vater um.
„Ylvie. Was geht hier vor?"
„Das ist Silvan, der Geist des Waldes. Er ist hier, um mit dir über den Staudamm zu verhandeln."
Sein Blick huschte zu dem seltsamen Mann an meiner Seite. „Ich verstehe nicht. Das Monster..."
„Das war er. Der Staudamm schadet dem Wald und er versucht ihn zu beschützen."
Silvan legte mir sanft eine Hand auf den Arm und trat einen Schritt vor. Die übrigen Menschen wichen vor ihm zurück, einige ergriffen sogar die Flucht. „Ylvie ist der Meinung, dass wir einen Kompromiss finden können. Sind Sie ebenfalls dieser Meinung?"
Mein Vater warf nur einen kurzen Blick in mein tränennasses Gesicht und nickte dann. „Ja, der Meinung bin auch. Wollen wir gleich hier beraten oder bevorzugt Ihr ein Büro?"
„Ich denke, der Wald wäre ein guter Ort. Als Zeichen des guten Willens", mischte ich mich ein. „Ich werde als Vermittler mitkommen."
Silvans Augen zuckten. Er war nicht begeistert von der Idee, mich mitzunehmen. Mein Vater hingegen hätte nicht erleichterter aussehen können.
„Einverstanden." Silvan hielt uns beiden eine Hand hin, die ich sofort und mein Vater nach kurzem Zögern ergriff. Ein heftiger Wind ergriff uns und im nächsten Moment standen wir auf der Göttersäule, hoch über dem Tal, abgeschnitten von jeder Fluchtmöglichkeit.
Kurz vergaß ich meine Angst vor Silvan und warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. „Im Ernst? Abgelegener ging es nicht mehr?"
Seine Mundwinkel zuckten kaum merklich. „Ich denke, die Göttersäule ist der passende Ort, um über die Zukunft des Waldes zu entscheiden. Schließlich stand hier oben einmal der erste Baum."
Mit großen Augen sah ich ihn an. „Also ist das praktisch dein Geburtsort? Seltsame Wahl für ein erstes Date."
Jetzt hoben sich seine Mundwinkel deutlich. „Manchmal treffe ich seltsame Entscheidungen."
War das gerade der Versuch einer Entschuldigung gewesen? Ich erwiderte sein Lächeln schüchtern.
Mein Vater räusperte sich und ich ließ eilig Silvans Hand los. „Ich denke, es ist Zeit, zu verhandeln."
Silvan weckte mich, als die Sonne schon tief am Himmel stand. Müde blinzelte ich und schoss dann erschrocken auf. Wie war mein Kopf in seinem Schoß gelandet?
Mit einem kleinen Lächeln sah Silvan auf mich herunter. „Wir haben alles besprochen. Ich werde deinen Vater jetzt zu seinen Leuten zurückbringen, dann komme ich dich holen. In Ordnung?"
Ich wandte mich nach meinem Vater um, der uns aufmerksam beobachtete. „Habt ihr eine Lösung gefunden?"
Er nickte. „Für jeden Hektar Land, das wir nutzen, müssen an anderer Stelle 1000 neue Bäume gepflanzt werden. Silvan wird die Tiere in den ausgewählten Abschnitten tiefer in den Wald umsiedeln. In Zukunft werden alle Entscheidungen, die den Wald betreffen, mit ihm abgesprochen."
Überrascht drehte ich mich zu ihm um. „Du willst in Kontakt mit den Menschen treten."
„Nein. Ich werde eine Kontaktperson brauchen." Seine Augen wanderten über mein Gesicht.
„Ich? Aber ich habe gerade mal die Schule beendet. Ich habe einen Studienplatz für Herbst und ich..."
„Liebling", unterbrach mein Vater mich. „Es ist der perfekte Zeitpunkt, um etwas Neues zu beginnen. Niemand sonst ist für diese Art von Arbeit geeignet. Vermittlerin zwischen Mensch und Natur. Wer kann das schon von sich behaupten?"
Silvan legte mir eine Hand auf die Schulter. „Du musst dich nicht jetzt entscheiden, Ylvie. Trotzdem würde ich mir wünschen, dass du es wenigstens in Betracht ziehst."
Ich nickte leicht. „Ja. Natürlich werde ich darüber nachdenken, Silvan."
Sanft strichen seine Finger über meine Wange bevor er meinen Vater am Arm nahm. „Wir sehen uns gleich, Wölfin."
„Bis gleich, Waldgeist."
Allein blieb ich auf dem Felsen zurück. Bei Tageslicht war der Ausblick nicht weniger beeindruckend als in der Nacht. Mir war nicht bewusst gewesen, wie gigantisch der Wald war. Und das war nur auf einer Seite des Berges. Kilometerweit erstreckte sich der Wald unter mir. Wenn ich darüber nachdachte, dass all das hier oben mit einem einzelnen Baum begonnen hatte, wurde mir schwindelig. Wie viele tausend Jahre musste es gedauert haben, um einen solchen Wald wachsen zu lassen? Wie viele Seelen hatte Silvan kommen und gehen sehen? Und niemals hatte er sich mit den Menschen verbündet, nicht vollständig jedenfalls. Einzelnen Auserwählten hatte er sein Reich gezeigt, doch es war das erste Mal, dass er sich tatsächlich mit den Menschen arrangieren musste.
„Ylvie."
Ich drehte mich nicht zu ihm um, sondern betrachtete weiterhin sein Reich unter mir. „Danke."
„Wofür?"
„Dass du mir vertraut hast und kein Unheil angerichtet hast."
Seufzend blieb er neben mir stehen und sah mit mir in die Tiefe. „Ich sollte dir danken. In den letzten 50 Jahren hat sich die Welt sehr verändert, nur habe ich davon nicht viel mitbekommen. Es wird Zeit für eine Veränderung. Ohne dich hätte ich das nicht begriffen." Seine Finger schoben sich sanft zwischen meine. „Vielleicht kann sich noch mehr ändern."
Ich wusste, wovon er sprach. Vielleicht würde sich zur Abwechslung ein Mädchen für ihn entscheiden. Für ein Leben halb im Wald und halb in der Menschenwelt. Ein Kompromiss fürs Leben. Nein, kein Kompromiss, eine Chance auf das einzigartigste Leben, das man sich vorstellen konnte.
„Ja, es wird Zeit, dass sich etwas ändert", bestätigte ich und drückte seine Hand etwas fester. „Es wird Zeit, dass du endlich das bekommst, wonach du dich so lange gesehnt hast." Sanft schob ich sein weißes Haar zur Seite und sah in seine Sternenaugen. „Es wird Zeit, dass sich das Mädchen für dich und den Wald entscheidet."
Seine Finger zittern, als er sie über meine legte. „Bist du wirklich sicher?"
Als Antwort zog ich ihnzu mir herunter und küsste ihn. Oh ja, ich war mir sicher. Ich wollte nichts lieber, als für immer durch den Wald zu fliegen, mit den Wölfen zu rennen und anseiner Seite zu sein. Mein Leben lang hatte ich von Magie geträumt und jetzt,wo ich sie endlich gefunden hatte, würde ich sie nicht wieder loslassen.
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Ende gut, alles gut, nicht wahr? ♥
Nächste Woche gibt es noch einen Epilog, dann sind wir tatsächlich schon am Ende der Geschichte. Schade eigentlich :(
Sagt mir in den Kommentaren, was ihr von dem Ende haltet :)
Liebe Grüße ♥
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Waldgeister ✔
FantasyEin Urlaub in den Bergen. Ein geheimnisvoller Mann im Wald. Nachdem Ylvie im Wald einem fremden Mann begegnet, stolpert sie mit jeder Begegnung tiefer in eine Geschichte, die den Lauf ihres Lebens für immer verändern wird.