Kapitel 6

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Kapitel 6: Ein Kuss

Wasting my young years – London Grammar

Adelaide POV

Zwei Wochen später

Die letzten Wochen waren schnell vergangen. Jeden Abend hatten Charles und ich auf dem Balkon gestanden und uns den Sonnenuntergang angesehen. Wir hatten über alles Mögliche geredet; unsere Kindheit, was wir gerne taten, was wir hassten und so vieles mehr. Ich hatte ihm die blauen Flecken von Francis gezeigt.
»Ich wünschte ich könnte mir etwas einfallen lassen, was dies entschuldigt. Aber eine Frau zu verletzen ist einfach ein Tabu – Für mich zumindest«, hatte er gesagt. Das waren Worte, die mich sehr gerührt hatten und bevor ich es verhindern konnte, hatte ich ihn umarmt. Es hatte sich unglaublich vertraut angefühlt in Charles Armen zu sein. Noch immer überlegte ich, an wen er mich erinnerte. Woher mir dieses Gefühl in seiner Nähe bekannt vorkam.

»Charles ist hin und weg von dir, Adelaide! Ich habe doch gesehen, wie er dich anblickt!«, sagte Tabea mit einem Grinsen, welches ich nur zu gut kannte. Ich konnte mir selbst ein Grinsen nicht verkneifen. Wir saßen zu zweit in der Sitzecke an meinem Fenster.
»Kann schon sein«, gab ich zurück.
»Kann schon sein?!« Sie klang geradezu empört. »Jetzt untertreibst du aber gehörig. Wie findest du ihn denn? Bist du verliebt?«
»Ich weiß es nicht. Aber eines ist klar: Nachdem Edward starb dachte ich, ich würde nie mehr glücklich werden. Aber Charles macht mich glücklich.«
»So wie Edward dich glücklich gemacht hat?«, fragte sie. Ich schüttelte den Kopf.
»Nein, nicht ganz. Es ist anders, aber ich weiß nicht genau, in welchem Sinne, oder wie.«
»Bist du denn darauf gekommen, an wen er dich erinnert?« Wieder konnte ich bloß den Kopf schütteln.
»Das macht mich noch verrückt, Tabea. Es liegt mir förmlich auf der Zunge!« Ich runzelte meine Stirn und seufzte.
»Aber das Wichtigste ist doch, dass du glücklich bist«, meinte sie lächelnd. Ich lächelte ebenfalls. »Trefft ihr euch heute Abend wieder auf dem Balkon?«
»Nein. Wir machen gleich ein Picknick. Er sagte er kennt eine besondere Stelle, an der uns niemand sehen wird. Es ist wirklich anstrengend, dass wir uns immer so verstecken müssen.«
»Was genau müsst ihr denn verstecken?«, fragte sie wieder auf eine anzügliche Weise.
»Was meinst du?«, fragte ich zurück, so unschuldig, wie ich konnte.
»Du weißt was ich meine! Habt ihr euch geküsst? Oder sogar mehr? Jetzt erzähl schon!«
»Nein, haben wir nicht, Tabea. Wir reden nur und verbringen unsere Zeit miteinander.«
»Langweilig!« Ich schüttelte lachend den Kopf.
»Du bist unmöglich!« Sie zuckte bloß mit den Schultern.
»Nur noch eine Frage: Denkst du es ist schlau sich in den Bruder deines Verlobten zu verlieben?« Nun sah sie mich doch besorgt an. Mein Lachen verging mir.
»Zwei Dinge: Erstens weiß ich gar nicht, ob ich in Charles verliebt bin. Ich mag ihn sehr gerne, aber ich fühle nicht das, was ich für Edward damals gefühlt habe. Und zweitens: Nein. Es ist wohl das dümmste, was ich je gemacht habe. Wenn ich mit Francis verheiratet bin, kann mich das meinen Kopf kosten! Aber ich will doch nur glücklich sein. Francis interessiert sich nicht im Geringsten für mich – Charles schon. Es fühlt sich einfach so gut an«, erklärte ich. Ich wusste, dass das mit Charles bald enden musste, aber solange ich dieses Glück haben konnte, bewahrte ich es mir.
»Ich will nicht, dass du wieder traurig wirst, wie als wir hergereist sind.« Ich ergriff Tabeas Hand.
»Danke, das weiß ich zu schätzen. Ich fürchte nur, dass es jetzt zu spät ist. Ich mag Charles sehr und ich weiß, dass er mich mag. Sobald ein Termin für die Hochzeit feststeht, werde ich mit Charles darüber reden. Haben wir sogar schon ein wenig. Er versteht, dass ich meine Pflicht erfüllen muss und kein Wahl habe.« Tabea nickte.
»Na gut. Schließlich ist es deine Wahl, was du tust, solange du noch ledig bist. Solange du nicht zu weit gehst – Wenn du weißt, was ich meine.«
»Ich weiß, was du meinst. Keine Sorge – So weit werde ich nicht gehen! Jetzt genug von Charles und mir. Wie läuft es denn bei dir? Schon einen potenziellen Ehemann kennengelernt?«, fragte ich und wechselte das Thema.
»Nein, noch nicht. Aber das Warten ist es mir wert, wenn ich meinen Traummann dafür finde«, sagte sie träumerisch. Ich lächelte. Tabea hatte zwei Seiten; Die unmögliche und die süße, träumerische.
»Und wie sollte dein Traummann sein? Vielleicht kann ich dir beim Suchen helfen?«
»Das Aussehen ist nicht so wichtig wie der Charakter. Aber trotzdem sollte er schon gut aussehen. Aber es ist wichtiger, dass er nett ist, mich gut behandelt und auch eine romantische Seite hat. Ich möchte mich gut fühlen und einen Mann haben, der sich mit mir gemeinsam um unsere zukünftigen Kinder kümmert.« Ich nickte verstehend.
»Also das Gegenteil deines Vaters?«
»Ganz genau!« Wir beide lachten und redeten noch etwas weiter über ihren Traummann. Nach einer Weile erhob ich mich.
»Ich treffe mich jetzt mit Charles«, verkündete ich.
»Viel Spaß«, grinste Tabea und ich verließ lachend das Gemach.
Ich war schnell an dem Treffpunkt, den Charles und ich ausgemacht hatten. Er war bereits dort und erwartete mich. Mit einem Lächeln begrüßte er mich.
»Ich glaube dir wird der Ort gefallen, an dem wir das Picknick haben. Ich habe schon alles vorbereitet.«
»Dann los!«, sagte ich aufgeregt. Es war bereits längere Zeit her, dass ich ein Picknick hatte. Das letzte war in Schottland mit meinem Bruder und Edward. Dieser Gedanke versetzte meinem Herz einen kleinen Stich, doch ich ignorierte es und versuchte, mich auf Charles zu konzentrieren. Nach einem kurzen Fußmarsch waren wir an einer Trauerweide angekommen.
»Da drunter?«, fragte ich. Charles nickte und hielt für mich die hängenden Blätter auf Seite.
»Da kann uns niemand sehen«, meinte er. Unter der Weide war eine Decke ausgebreitet. Auf der Decke stand ein Korb in dem Brot und eine Flasche Wein war. Außerdem noch Fleischhäppchen, die man mit dem Brot aß. Zwei Teller und zwei Gläser standen ebenfalls dort. Meine Lippen formten ein breites Grinsen, als ich mich auf der Decke niederließ.
»Gefällt es dir?«, fragte Charles und setzte sich mir gegenüber. Wir waren nun im schattigen Schutz des Baumes.
»Gefallen? Ich liebe es! Das ist einfach wundervoll, Charles«, erwiderte ich begeistert. Er schenkte mir etwas Wein ein und legte Brot und Fleisch auf meinen Teller.
»Schön, dass es dir gefällt.« Er sah auf das Brot in seinen Händen. »Ich wollte etwas Besonderes für dich machen.«
»Das ist wirklich sehr besonders.« Ich musterte ihn. Irgendetwas an ihm war anders als sonst. Er sah mich kaum an. »Charles?«
»Hm?« Immer noch galt sein Blick dem Brot.
»Ist das Brot so viel interessanter als ich?«, fragte ich scherzhaft. Endlich sah er mich an, ein Runzeln auf seiner Stirn.
»Nein, natürlich nicht. Ich denke nur gerade nach«, sagte er und ich merkte, dass es etwas Ernstes sein musste.
»Und über was, wenn ich fragen darf?«
»Ich habe heute Morgen mit Francis geredet.«
»Und worüber?« In den letzten zwei Wochen war mir Francis immer wieder mal begegnet, wir sprachen aber kein Wort mit einander. Meist war er gerade dabei die Bediensteten herumzukommandieren oder mit einer Frau zu reden. Wenn er mit letzterem beschäftigt war, warf er mir jedes Mal einen Blick zu, als wolle er sagen: ‚Ich brauche dich nicht. Ich kann jede haben.' Dies rief bloß ein Augenrollen von mir hervor. Was mir ebenfalls auffiel, war dass die Bediensteten und Wachen genauso auf ihn zu hören schienen, wie auf seinen Vater.
»Er weiß, dass wir uns nahestehen und sagte mir, es sei töricht das zuzulassen«, erzählte er.
»Was zuzulassen?«
»Dass du dir einen Weg in mein Herz bahnst. Er sagte, dass ich der Grund für deinen verfrühten Tod sein werde.« Mir fiel die Kinnlade runter.
»Charles, noch ist Francis nicht mein Ehemann. Es gibt ja nicht einmal einen Termin für die Heirat! Und solange würde ich gerne genießen, was zwischen uns ist. Francis hat nicht das Recht über dich oder mich zu bestimmen. Noch ist er nicht König.«
»Ich würde das gerne auch noch genießen«, erwiderte er. »Aber wie lange, Adelaide?« Er sah unglaublich traurig aus und mir gefiel die Richtung, in die unser Gespräch ging, überhaupt nicht.
»Ich denke, bis es einen Termin für die Hochzeit gibt. Danach wäre es sehr dumm, wenn wir uns weiterhin treffen«, sagte ich leise und es war nicht zu leugnen, dass auch ich mich unglaublich traurig fühlte.
»Warum fühlt es sich schon jetzt wie das Ende an?«
»Ich weiß es nicht.« Unser beider Stimmen waren bloß ein Hauchen.
»Denkst du, wir sollten es schon jetzt enden lassen?«
»Ich weiß es nicht. Viele Leute haben bereits gemerkt, dass wir einander nahestehen. Und es verbessert meine Situation nicht gerade. Aber ich will nicht, dass es schon das Ende ist.« Charles lehnte sich zu mir und legte seine Hand an meine Wange. Sie war angenehm warm und weich. Er blickte mir tief in die Augen.
»So sollte es auch nicht enden«, hauchte er, bevor er sich weiter vorlehnte und seine Lippen auf meine legte. Es war ein sanfter, warmer Kuss voller Gefühl, den ich nur genauso erwidern konnte. Es fühlte sich gut an, doch die Trauer war zu spüren. Wir beide wussten, dass es wohl unser erster und letzter gemeinsamer Kuss war. Aber dies spielte in diesem Moment keine Rolle. Wir genossen die Nähe des anderen und das Gefühl der Zuneigung. Langsam löste er sich von mir. Ich ließ meine Augen geschlossen, als er seine Stirn gegen meine lehnte.
Dies war der letzte Tag, den wir in trauter Zweisamkeit hatten. Charles brachte mich am Abend zu meinem Gemach. Vor der Tür strich er noch einmal über meine Wange, bevor er sich herumdrehte und davon ging. Ich sah ihm nach, bis er um die nächste Ecke verschwand. Er blickte nicht zurück.

Stunden nachdem ich mich in mein Bett gelegt hatte, konnte ich immer noch nicht einschlafen. Eigentlich hatte ich das mit Charles noch länger genießen wollen und plötzlich war es zu Ende. Wie war es bloß so weit gekommen? Wie hatten wir uns so sehr auf einander einlassen können, wissend dass es uns verletzen würde, wissend dass ich Francis heiraten musste?
Ich lag in der Dunkelheit, doch der Schlaf mied mich entschieden. Ich schloss meine Augen, drehte mich herum und konzentrierte mich auf meine Atmung. Irgendwann musste ich schließlich einschlafen. Gerade als die Müdigkeit mich überfiel und ich beinahe in den Schlaf abdriftete, hörte ich das Öffnen und Schließen meiner Tür. Ich setzte mich auf und blickte im Zimmer umher, doch es war stockduster.
»Tabea? Anne? Emma?«, fragte ich in die Dunkelheit hinein.
»ich bin keine deiner kleinen Freundinnen«, sagte eine tiefe, bassreiche Männerstimme, die ich nicht kannte.
»Wer seid Ihr?«, fragte ich. Angst überkam mich und verzweifelt versuchte ich in der Dunkelheit zu sehen.
»Niemand, den Ihr kennt, Prinzessin. Aber ich kenne Euch.« Seine Stimme kam näher. Ich rutschte an das Kopfteil des Bettes, Schutz suchend. Eine starke Hand packte meinen Fuß. Ich versuchte mich loszureißen, doch vergebens. Der Fremde zog mich, sodass ich wieder lag. Das nächste was ich spürte war seine Hand an meinem Hals, die mich würgte. Ich wollte nach Hilfe schreien, konnte aber nicht. Seine andere Hand zog meine Decke weg und versuchte mir mein Nachthemd wegzureißen. Ich trat in die Luft, versuchte ihn abzuwehren. Durch ein unglaubliches Glück schaffte ich es ihn zu treffen. Ich vermutete, dass ich ihm in die Magenhöhle trat. Sein Griff wurde kurz lockerer. Genau diesen Moment nutzte ich, um mich zu befreien und aus dem Bett zu springen. Ich konnte nicht sehen, wo der Mann war, also tat ich das einzig Logische in diesem Moment: Ich schrie. So laut ich konnte. So laut, dass es in meinen eigenen Ohren schmerzte und meine Lunge brannte. Ein Lichtstrahl erfasste das Zimmer, als sich die Tür öffnete. Es war jedoch keine Hilfe, die kam; Der Mann floh. Mein Schrei verstummte. Ich war wieder allein. Zum Glück aber nicht lange. Emma kam mit einer Kerze in der Hand und Wachen im Schlepptau hineingestürmt.
»Adelaide, Adelaide! Was ist passiert? Geht es dir gut?«, fragte sie mich sogleich voller Panik. Erst in diesem Moment spürte ich, dass ich weinte. Sie zog mich in ihre Arme und hielt mich tröstend an sich gedrückt. Hemmungslos weinte ich an ihre Schulter und versuchte dabei zu erzählen, was passiert war. Sie verstand mich und gab es laut wieder, damit die Wachen es hörten. Diese stürmten sogleich aus dem Zimmer, um den Korridor abzusuchen, fanden jedoch nichts. Es half auch nicht, dass ich nicht die geringste Ahnung hatte, wie der Angreifer aussah. Aber eines war klar; Diese Stimme würde ich nie wieder vergessen.
Um mich zu beruhigen legte sich Emma mit mir in mein Bett. Zwei Kerzen leuchteten munter in die Dunkelheit. Endlich schaffte ich es in den ersehnten Schlaf abzudriften. Immer noch voller Angst und weinend. Wer war dieser Mann gewesen, der mir etwas so Furchtbares antun wollte?

Der unbekannte PrinzWo Geschichten leben. Entdecke jetzt