10. Kapitel

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Zuhause schrie mich meine Mutter an. Wo ich war. Und wo unser Hund war. Wir hatten keinen Hund.

Carmen versucht meinen Vater zu überzeugen das meine Mutter vom Teufel besessen sei, aber ohne Erfolg.

Er war ja Psychiater und wusste mit der Krankheit umzugehen. Also stand er nur da und beobachtete meine Mutter wie sie vollkommen die Beherrschung verlor.
Für mich war das jedes mal schrecklich. Das war zu viel. Wie sie immer so unmenschlich wurde.
Carmen bekreuzigte sich zich mal und sprach irgendwelche spanischen Gebete.
Dieser ganze Aufruhr machte es auch nicht grad schöner.
Diese ganze Situation war absurd.

"Beruhige sie, Daddy! Mach irgendwas!", schrie ich ihn an, Tränen rollten aus meinen Augen. Ich konnte sie nicht aufhalten. So wie mom sich selbst nicht aufhalten konnte.

Er starrte fasziniert auf sie, als wäre sie ein Ausserirdischer und müsste genauestens untersucht werden.

"Tu was!",brüllte ich, das brachte ihn auf keinen Fall aus der Fassung.

Meine Mutter schrie wie vom Spieß und führte sich auf wie eine Furie. Sie schlug um sich, als müsste sie etwas abschütteln.

Erst jetzt rührte sich Dad :"Man muss sie lassen. Sie beruhigt sich von alleine wenn ihre Kraft ausgeschöpft ist." Immer noch total abwesend.

Weinend lief ich auf mein Zimmer.

Ich verkroch mich in mein Bett und schluchzte ohne Pause.

Wieso war sie so? Konnte man sie wirklich nicht heilen. Ich bin manchmal zu ungerecht zu ihr weil sie gar nichts dafür kann. Die Krankheit herrscht über sie. Sie kann nichts dagegen tun.

Tausende Gedanken wirbelten durch meinen Kopf.

Wieso beobachtete Dad sie wie ein Objekt. Etwas das er entwickelt hat das fliegen soll und gespannt wartet wann es denn endlich abhebt.

Am nächsten Tag stand ich emotionslos auf. Es war der 23. Oktober. Das hieß der nächste Termin.

Ich ging mit meiner Mom nach der Schule zu ihrem Psychologen und Anstaltsleiter- einer eine eigenen Psychatrie, in der sie dank meinem Vater noch nicht zu sein brauchte- zu dem sie regelmäßig mindestens jede zweite Woche ging.

Sie darf zuhause rechtlich gesehen leben, da mein Vater Psychiater ist aber nicht bei ihm in Behandlung sein. Dieser ganze gesetzliche Schnickschnack ist auf die Dauer ziemlich verwirrend.

Im Warteraum waren wir zunächst allein. Meine Mutter las Zeitschriften und sah ganz normal aus. Wie eine normale Frau bei einem normalen Arzt die normal auf ihren Aufruf wartet. Wenn man sie so sieht kann man sich gar nicht vorstellen wie sie im Kopf eigentlich tickt.

Was ich nicht mag an ihr ist unsere Ähnlichkeit.

Sie hat dieselben langen dunkelblonden Haare - hochgesteckt - dieselbe helle Hautfarbe. Nur ihre Augen sind hellbraun. Meine Augenfarbe hab ich von meinem Vater kein blau eher ein grau.

Aber die Züge sind gleich. Die gerade Nase, tiefen Augen, geschwungen Lippen.

Ich hab es immer gehasst mit ihr vergliechen zu werden.

Sie war ein Monster.

Zum Beispiel einmal im Zug. Mom und ich kommen aus der Stadt und eine ältere Dame setzt sich gegenüber von uns. Damals war ihre Krankheit noch gar nicht diagnostiziert.

Die Dame lächelte mich an - sie hatte grau melierte Haare und einen schicken violetten Hut an den ich mich erinnern kann - dann sagte sie zu meiner Mutter :" Ihre Tochter ist wie aus ihrem Gesicht geschnitten. Ein sehr hübsches Mädchen. "

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