Tigerblüte rannte, rannte schneller, als sie es jemals in ihrem Leben getan hatte. Mit brennenden Lungen kämpfte sie sich den Felspfad entlang, der zur Klippe führte. Doch obwohl ihre Muskeln vor Erschöpfung schon schrien, gönnte sich die Kätzin keine Pause. Denn sie hatte sich geschworen, ihren Bruder zu retten, selbst, wenn sie das ihr Leben kosten würde.
Der steinige Pfad endete an den Klippen. Vor sich konnte Tigerblüte den großen Laubbaum erkennen, der in der Nähe des Abgrunds stand. Und dort, ein paar Schritte weiter, die Patroullie des Strandclans. Sie befanden sich direkt neben dem Bach, zu dem Donnerpfote gerade hin gedrängt wurde.
Ja, so sahen die Hinrichtungen im Strandclan aus. Die betroffene Katze wurde kurzerhand in den Bauch geschubst, der dann in die Tiefe stürzte. Aus dem Meer, das einige Katzenlängen weiter unten gegen die Klippen klatschte, ragten spitze Felsen. Wer hinunterfiel, ertrank also entweder oder wurde aufgespießt. Kein schöner Tod.
Natürlich konnte man sich da fragen, warum Otterstern sich die ganze Mühe machte. Theoretisch könnte er den Katzen, die er tot sehen wollte, ja einfach die Kehle aufschlitzen. Doch für den braunen Kater war es nicht genug, einfach die Pfote auszustrecken und die Katzen zu töten. Denn das würde nur einen Schlag bedeuten und zack! Ein Toter lag vor ihm.
Otterstern aber bevorzugte es, den Schrecken in den Augen der Opfer zu sehen, sie ängstlich schreien zu hören, während sie durch die Luft fielen. Er wollte ihre Qual so lange wie möglich auskosten. Außerdem wollte sich Otterstern nicht die Pfoten mit ihrem Blut schmutzig machen.
So war auch Tropfenglanz damals gestorben. Sie war von der Klippe gefallen und war von einem der Felsen durchbohrt worden. Doch trotzdem hatte der Anführer des Strandclans mit Schuld an ihrem Tod, denn er war es gewesen, der sie hinunter gestoßen hatte.
Tigerblüte schüttelte sich. Sie durfte sich jetzt nicht in ihren Erinnerungen verlieren, nicht jetzt, da Donnerpfote in Lebensgefahr schwebte. Seine Hinterpfote berührte bereits das Wasser, als Otterstern ihn weiter hinein drängte. Der rot getigerte Schüler starrte den braunen Kater einfach nur mit aufgerissenen Augen ängstlich an und zitterte am ganzen Körper. Die restlichen Katzen beobachteten das Schauspiel mit hungrig funkelnden Augen.
Denk nach! Denk nach! Tigerblüte's Gedanken rasten auf der Suche nach einer Möglichkeit, ihren Bruder zu retten. Irgendwas muss ich doch tun können! Da sie nie sonderlich kreativ gewesen war, griff sie auf den guten alten Überraschungsangriff zurück. Wenn ich mich von hinten an die Patroullie anschleiche, kann ich Kieselsturm und Fischfang sofort ausschalten und mir dann Algennase vornehmen. Die Einzige, die Probleme machen könnte, ist Schildkrötenmaul. Die getigerte Kätzin fuhr kampfbereit die Krallen aus. Um ihren Bruder zu retten, würde sie über Leichen gehen!
Also schlich sie leise hinter ihrem Baum hervor und kroch durch das Gras auf die Katzen zu. Donnerpfote stand bereits mit allen Pfoten im Wasser und hatte Mühe, sich gegen die starke Strömung des Baches zu wehren. Halte durch!, flehte Tigerblüte stumm. Ich hole dich da raus!
Plötzlich hob Schildkrötenmaul alamiert die Nase und schnupperte. Tigerblüte erstarrte. Oh nein! Ich habe vergessen, mich gegen die Windrichtung anzuschleichen! Was bin ich nur für ein Algenhirn! Die schildpattfarbene Kriegerin wirbelte herum und entdeckte die junge Kätzin zwischen den Grashalmen kauern. Schildkrötenmaul kniff ihre Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. "Wir haben Besuch", informierte sie Otterstern.
Der braune Kater drehte sich um, seine Augen blitzten höhnisch. Als er auf Tigerblüte zutappte, schoss Donnerpfote sofort aus dem Wasser und blieb mit bebenden Flanken am Ufer liegen. Die junge Tigerkätzin erhob sich unterdessen. Man hatte sie entdeckt. Was lohnte es sich da noch, sich zu verstecken? Der Anführer des Strandclans blieb vor ihr stehen, sein Blick ruhte verächtlich auf ihr. "Ich wusste, dass du kommen wirst", miaute er. "Denn du würdest alles dafür tun, um deinen ach so tollen Bruder zu retten" Selbstgefällig lächelte er.
Tigerblüte zeigte bedrohlich ihre Zähne. "Lass ihn gehen!", zischte sie und peitschte dabei mit den Schweif. Er schnaubte jedoch nur: "Und was für Vorteile würde mir das bringen?" Sie glaubte, fast vor Wut zu explodieren. Er behandelt ja Donnerpfote, als wäre er nur ein Objekt, eine Ware, mit der man handeln kann!
Sie kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen und überlegte, was sie tun sollte. Natürlich würde sie Otterstern alles geben, was sie hatte, um ihren Bruder lebend zurück zu bekommen, aber genau das konnte der Anführer auch ausnutzen. Wie weit würde sie gehen, welch hoher Preis war ihr Donnerpfote wert?
Da hatte sie eine Idee. Tigerblüte suchte kurz mit ihrem Blick die Reihe der Krieger vor ihr ab, um die schwächste Katze zu finden und stürzte sich dann auf Fischfang. Die Kriegerin jaulte erschrocken, als sie von der Tigerkätzin zu Boden gedrückt wurde, verstummte aber abrupt, als Tigerblüte ihr ihre Krallen an die Kehle legte.
"Rück sofort Donnerpfote heraus, oder ich schneide ihr die Kehle durch!", fauchte Tigerblüte provozierend und erschrak selbst über ihre Worte. Sie erkannte sich selbst nicht wieder. Was tue ich hier eigentlich? Doch sie war nun dazu gezwungen, dieses Spiel zu spielen. Sie würde Donnerpfote um jeden Preis hier wegschaffen.
"So ist das also" Otterstern beobachtete das Geschehen mit schief gelegtem Kopf. "Ihr Leben gegen seins. Aber lass dir mal was sagen, Tigerblüte" Er zucke mit einem Ohr. "Was ist, wenn ich dir sage, dass mir Fischfang sowas von egal ist?" In seine Augen trat ein wildes Funkeln, wie Feuer loderte sein Blick. "Ich habe mir geschworen, alle Verräter und Dunkelmagier dieses Clans zu vernichten!", knurrte er. "Und das werde ich auch tun!"
Er gab Schildkrötenmaul und Kieselsturm ein Zeichen mit der Schweifspitze und die beiden gingen mit ausgefahrenen Krallen auf Donnerpfote los. "Nein!", keuchte Tigerblüte panisch. Ihre Brust zog sich vor Angst um ihren Bruder zusammen. Der Heilerschüler jedoch, der immer noch am Ufer des Bachs lag und sich vor Erschöpfung kaum rühren konnte, hatte keine Chance.
Die beiden Krieger des Strandclans bohrten ihre Klauen in den rot getigerten Pelz und zerrten ihn zum Bach. "Nein!", hauchte Tigerblüte ein zweites Mal. Ohne zu überlegen konzentrierte sie sich auf das Wasser, das ruhig vor sich hinplätscherte. Sie wusste, dass die einzige Möglichkeit, die ihr geblieben war, um Donnerpfote zu retten, nur darin bestand, ihre Gabe zu zeigen.
Plötzlich bäumte sich sich das Wasser des Baches auf und stürzte sich wie ein wütender Fuchs auf die beiden feindlichen Katzen. Entsetzt schnappten Schildkrötenmaul und Kieselsturm nach Luft, bevor das kalte Nass über ihnen zusammenbrach und sie mit sich in den Bach zerrte. Nur Donnerpfote, dessen Pelz nun durchweicht war, blieb am Ufer liegen.
Auf Ottersterns Gesicht breitete sich nach einigen Momenten ein böses Lächeln aus, als er verstand, was gerade passiert war. "Du bist eine Dunkelmagierin", bemerkte er. "Wusste ich es doch!"
DU LIEST GERADE
Warrior Cats ~ Tigerblüte's Gabe
Fanfiction> Schon seit Tigerpfote denken kann, ist sie dazu verdammt, eine ihr angeborene Gabe vor den anderen Katzen des Strandclans zu verstecken. Sollte ihr Geheimnis je ans Licht kommen, wird das ihr Todesurteil sein. Doch als ihr Bruder in Gefahr gerät...