10. Kapitel

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Tigerblüte schaffte es irgendwie, unter den hasserfüllten Blicken ihrer Clankameraden aufrecht stehen zu bleiben und sie alle herausfordernd anzusehen, obwohl sie lieber im Erdboden versinken würde. Es tat in gewissermaßen weh, dass ihre Freunde und Bekannten ihr nun so feindselig gegenüber traten, obwohl sie ihrem Clan nur hatte helfen wollen.

"Das handelt sich alles um ein großes Missverständnis", versuchte die Tigerkätzin sich mit ruhiger Stimme zu erklären. Doch weiter kam sie nicht, denn Felsenherz unterbrach sie höhnisch: "Oh, natürlich! Es ist auf jeden Fall ein ganz großes Missverständnis, dass du unseren Anführer ermordet hast!" Tigerblüte wollte etwas entgegen, aber jemand kam ihr zuvor. "Lass sie doch erst mal ausreden!", fauchte Sandfunke verärgert und funkelte den vorlauten Kater an. Sie schenkte ihrem ehemaligen Mentor einen strengen Blick. Ich kann mich selbst verteidigen, vielen Dank!

An den restlichen Clan gewandt, sprach die Kätzin: "Otterstern hat meine Mutter Tropfenglanz ermordet und genauso wollte er auch meinen Bruder ermorden. Ich konnte den Gedanken nicht ertragen, einfach tatenlos zuzusehen, also habe ich ihn befreit. Aber Oterstern hat daraufhin versucht, mich zu töten" Sie spürte jeden einzelnen Blick heiß auf ihrem Rücken. So viel Aufmerksamkeit war ihr noch nie gebührt worden. "Ich tötete ihn, um mich und meinen Bruder zu schützen", stellte Tigerblüte klar. "Ich hätte ihn niemals aus Spaß ermordet. Das war Notwehr!"

So langsam begannen die Katzen zu verstehen. Doch die misstrauische Stimmung hing noch immer wie eine dunkle Wolke über dem Clan. "Das ändert nichts daran, dass du eine Magierin bist", miaute Karpfenbart vorwurfsvoll. "Wie können wir dir nur vertrauen?" Tigerblüte sah den Kater an. "Wir Magier sind nicht gefährlich", erklärte sie nachdrücklich. "Kannst du mir ein Beispiel nennen, bei dem eine Katze durch einen Magier umgekommen ist?"

Karpfenbart dachte kurz nach, schüttelte dann den Kopf, meinte jedoch: "Otterstern hat aber gesagt..." Tigerblüte schnaubte abfällig. "Er hat so einiges gesagt", bemerkte sie trocken. "Er hat euch immer Schlechtes von Magiern erzählt, damit ihr auch schön Angst vor uns habt! Aber lasst euch mal was sagen: Die Gaben, die wir haben, bringen nicht nur Schlechtes! Sie können auch Gutes bewirken!"

Langsam trat Lachspfote vor, ihre Beine zitterten kaum merklich vor Nervosität, aber tapfer hielt die junge Schülerin das Kinn erhoben, als sie ihrem Clan gegenüber trat. "Sie hat Recht", stimmte Lachspfote ihr zu. "Gaben können Gutes bewirken. Seht her und lernt!"

Die zierliche Kätzin tappte auf ein Grasbüschel zu, das sich trocken und einsam aus dem Gestein gekämpft hatte und nun schlapp die Halme hängen ließ. Zu Tigerblüte's Erstaunen berührte Lachspfote das Gras mit der Nase und sofort richtete es sich auf, färbte sich zu einem satten Grün und wirkte auf einmal wie neu geboren. Ein überraschtes Raunen ging durch die Menge. "Sie ist eine Magierin!", entfuhr es Seerosenherz, die wie versteinert auf ihre Schülerin starrte.

Diese sah sich herausfordernd um. "Dank meiner Gabe kann ich jedes welke oder tote Kraut wieder zum Leben erwecken, sodass die Heiler es pflücken und euch damit gesund pflegen können", miaute Lachspfote. "Und jetzt sagt mir mal, was daran schlecht ist!" Tigerblüte brachte keinen Ton hervor. Lachspfote ist wie ich! Sie ist eine Magierin, die ihre Gabe seit ihrer Geburt verstecken musste!

Felsenherz zeigte mit einem mal seine Zähne. "An deiner Gabe ist natürlich nichts schlecht!", fauchte der graue Kater mit gesträubtem Fell. "Aber an ihrer!" und damit deutete er auf Tigerblüte. "Sie hat mit ihrer Gabe unseren Anführer getötet! Und dafür wird sie jetzt bezahlen!" Er kam steifbeinig auf die braune Tigerkätzin zu. "Ich als der neue Anführer verbanne dich hiermit aus dem Strandclan!", miaute er gebieterisch. "Bis zur Abenddämmerung bist du verschwunden! Sonst wird die Patroullie, die ich später zur Kontrolle losschicke, dich töten!"

Tigerblüte wich zurück, Entsetzen machte sich in ihr breit. Oh Sternenclan, bitte mach, dass das nicht wahr ist!, schoss es ihr durch den Kopf. Donnerpfote jaulte verzweifelt und versuchte, zu ihr zu rennen, doch Karpfenbart hielt ihn mit seinen Krallen eisern zurück. Sandfunke starrte einfach nur todtraurig in ihre Richtung. Streifenflug senkte erschöpft den Kopf. Lachspfote und Seerosenherz sahen Felsenherz wütend an. Doch keiner konnte den Befehl des Anführers missachten, denn das würde bedeuten, dass sie Tigerblüte's Schicksal folgen müssten.

Die Kätzin wich zurück, in Richtung Ausgang. Ihr Kopf schwirrte vor Wut und Verzweiflung, sodass sie es kaum aushielt. Und irgendwann machte sie kehrt und sauste nach draußen, aus der Höhle raus auf den Strand. Der Clan sah ihr schweigend nach. Lebt wohl, dachte sie betrübt, während sie ziellos umher stolperte. Lebt wohl.

-

Tigerblüte saß an der Klippe und starrte auf den Horrizont hinaus. Gerade ging die Sonne unter und tauchte die Welt in ein dämmriges Licht. Jetzt schickt Felsenherz seine Patroullie los, die kontrollieren soll, ob ich das Territorium verlassen habe, wurde es ihr bewusst. Doch das war ihr egal. Sie würde hier bleiben und dabei war es ihr gleich, was passieren würde. Sie würde beim Strandclan bleiben, dort, wo sie geboren worden war, selbst, wenn es sie den Tod kostete. Wie passend, dachte Tigerblüte und warf einen Blick auf die spitzem Felsen, die unten aus dem Meer herausragten. Hier starb auch meine Mutter.

Plötzlich raschelte es hinter ihr im Unterholz und die Kätzin fuhr herum, bereit, der Patroullie entgegenzutreten. Zu ihrem Entsetzen gaben die Schatten einen braunen Kater frei, der mit einem breiten Grinsen auf sie zugetappt kam. "Otterstern", stotterte Tigerblüte. Mit sowas hatte sie gar nicht gerechnet. "Du bist doch tot!" Otterstern leckte sich mit amüsiert funkelnden Augen über die Lippen. "Das ist war", säuselte er. "Du hast mich getötet. Aber du hast vergessen, dass ein Anführer mehr als ein Leben hat" Stimmt! Wie könnte ich das nur vergessen?

"Und was machst du jetzt hier?", fragte Tigerblüte so beiläufig wie möglich, denn sie wollte ihre Angst nicht preisgeben. Der Kater zuckte nur mit den Schnurrhaaren. "Dich töten, natürlich", sagte er, als sei es das selbstverständlichste der Welt. "Mich rächen und so" Bei diesen Worten fuhr er seine Krallen aus. "Ich habe lange gewartet, bis du kommst! Und nun wirst du dein blaues Wunder erleben!" Schon stürzte er sich auf sie.

Tigerblüte wich aus und stieß Otterstern von sich, geradewegs in Richtung des Baches. Er fing sich nach wenigen Herzschlägen wieder. "Und wenn ich mit dir fertig bin!", fauchte er laut. "Dann werde ich zum Strandclan zurückkehren und ihn zerstören! Ihn zerstören, hörst du? Denn er besteht nur aus so verweichten Katzen wie dir und hat es nicht mehr verdient, zu leben!" Er ist verrückt, war Tigerblüte's einziger Gedanke. Er ist einfach verrückt!

Die beiden griffen sich wieder gegenseitig an und zeigten dabei keine Gnade. Als wirbelndes Bündel aus Fell, Krallen und Zähnen rollten sie kreischend umher und schlugen aufeinander ein. Doch auf einmal umschloss kalte Nässe die beiden Gegner. Wir sind in den Bach gefallen... Und schon wurden sie von der Strömung mitgeschwämmt. Tigerblüte zappelte panisch, als ihr Wasser in Augen und Maul lief. Wo ist oben und wo unten? Schließlich endete der Bach und stürzte in die Tiefe, die beiden Katzen riss er mit. Die Klippe!

Angst lähmte Tigerblüte vollkommen. Ich werde sterben! Und Otterstern mit mir! Ein letzter Blick nach oben blieb ihr während des Falls noch. Und dort, auf der Klippe, erkannte sie ein paar vertraute Katzen, die ihr verzweifelt hinterher jaulten. Die Patroullie! Und nun sieht sie mich sterben. Eine seltsame Ruhe überkam Tigerblüte, während sie den spitzen Felsen unten entgegensah. Neben ihr kreischte Otterstern voller Panik, doch sie blieb stumm. Jetzt heißt es Abschied nehmen, schoss es ihr durch den Kopf. Ich hoffe nur, dass es jetzt nicht allzu schmerzhaft wird.

Warrior Cats ~ Tigerblüte's GabeWo Geschichten leben. Entdecke jetzt