12 Ruby Beobachter

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Ich habe nicht mehr geschlafen, seit Jade in die Spiele gezogen ist. Ich habe das Gefühl, ich würde sie im Stich lassen, wenn ich das tue. Ich muss auf sie aufpassen. Ich habe es geschafft, als erste Mentorin genug Geld für ein Sponsorengeschenk zusammen zu bekommen. Ich habe ihr auch eine Notiz dazugelegt, wie Helen damals mir. Doch jetzt kann ich nichts tun. Hier gibt es nichts, dass Jades Wunde schnell genug heilen könnte, jedenfalls nichts, das sie in der Arena anwenden kann. Alles, was ich tun kann, ist meinem kleinen Mädchen, meiner Caty beim Sterben zu zusehen. Ich will nicht hinsehen, kann aber auch nicht wegsehen. Ich muss erfahren, was passiert, will es aber gleichzeitig nicht wissen. Nach der Adlerattacke ist mir Samuel nicht mehr von der Seite gewichen und auch Leon geht immer nur kurz aus dem Raum um uns etwas zu essen und zu trinken zu holen. Ich habe diesen Raum seit zwei Tagen nicht mehr verlassen und ich habe es auch nicht vor. Vor allem jetzt nicht. Denn gerade jetzt lehnt Jade an einem Baumstamm, so blass, dass sie wie ein Geist wirkt, ihre braunen Augen dunkel und dumpf vor Schmerz. Ich kann sehen, wie sie dagegen ankämpft. Am liebsten würde ich zu Snow gehen und ihm meine Meinung sagen. Natürlich nicht mit Worten. Ich würde einfach meine Faust mehrmals in seinem Gesicht platzieren, so lange bis Blut fließt. Damit er meinen und auch Jades Schmerz spürt. Ein Knacken reißt mich aus meinen Gedanken und ich starre auf die zwei Hälften eines Bleistifts, den ich gerade in den Händen halte. Leon nimmt mir den zerbrochenen Stift ab und wirft ihn weg. Währenddessen rückt Samuel noch näher an mich heran. Er hat Angst, dass ich es nicht verkrafte. Dass ich entweder zusammenbreche oder irgendetwas Unüberlegtes tue. Doch ich kann nichts Anderes tun, als auf den Bildschirm starren und zusehen, wie Jade langsam immer weiter abdriftet. Samuels Tributin ist beinahe sofort an den Verletzungen durch dieselbe Mutation gestorben. Ich wünschte, ich könnte Jades Platz einnehmen und an ihrer Stelle in dieser Arena sein. Durch meine Selbstheilungskräfte würden beinahe sämtliche Verletzungen sofort heilen. Aber bis jetzt scheint es, als wären meine Kinder vollkommen normal, ohne ein Anzeichen, dass sie etwas von meinen veränderten Genen geerbt haben. Ich hoffe, dass es so bleibt. Denn diese Fähigkeiten kommen aus dem Kapitol und das kann gar nichts Gutes bedeuten. Auch wenn es keine direkten negativen Auswirkungen auf mich hat, außer gelegentlichen verstärkten Wutanfällen, könnte das bei ihnen ganz anders sein. Ich konzentriere mich wieder auf den Bildschirm, denn gerade hat sich etwas in Jades Miene verändert. Sie scheint eine Entscheidung getroffen zu haben. Die Entscheidung, aufzugeben? Ich weiß es nicht. Kurz blendet die Kamera zurück zu dem Jungen aus Distrikt 4, welchen die Karrieros gerade in seinem Lager überrascht haben. Ich habe seine Kanone nur nebenbei mitbekommen. Die Ansicht wechselt wieder zu Jade und Stephen. „Das war nicht meine Kanone. Ich bin noch nicht tot.", erklärt Jade und ich kann die Anstrengung in ihrer leisen Stimme hören. Noch nicht. Sie ist noch nicht tot. Ich lasse meinen Kopf in meine Hände sinken, ich will es nicht mehr sehen. Doch hören kann ich es noch immer. Ich spüre Samuels Hand auf meiner Schulter, als Stephen antwortet. „Aber ich kann nichts tun, um dich zu retten.", ruft er verzweifelt und meine Gedanken schießen mehrere Jahre zurück zu all den Momenten in denen die beiden unzertrennlich waren. Wo sie ganze Tage lang zusammen herumliefen und später gemeinsam trainiert haben. In meiner Erinnerung sind die beiden immer zusammen. Es ist grausam, sie jetzt so zu trennen. Als Jade wieder spricht, sehe ich jedoch wieder auf, denn ich kann nicht glauben, was sie da gesagt hat. „Aber ich vielleicht.", sagt sie mit leiser Stimme und mich beschleicht eine böse Vorahnung. Bitte nicht. Lass es nicht das sein, was ich denke. Stephen ist durch diese Aussage im Gegensatz zu mir verwirrt. „Wie denn?", will er wissen, immer noch ist seine Verzweiflung offensichtlich. Jade ignoriert seine Frage und schüttelt den Kopf. Dann greift sie nach Stephens Hand. „Bleib...bleib einfach bei mir und lass nicht los.", bittet sie kaum hörbar und sofort umklammert er ihre Hand, während sie ihre Augen schließt. Innerhalb von Sekunden verändert sich ihr Gesichtsausdruck und mir läuft ein Schauer über den Rücken. Denn sie sieht nicht mehr aus wie Jade, ihre Miene ist vollkommen ausdruckslos, wenn auch nicht mehr vor Schmerz angespannt. Beinahe sieht sie aus, als wäre sie schon tot. Doch ich weiß es besser. Sie hat einen Ausweg gefunden. Ich hoffe nur, dass es diese Lösung wert ist. „Jade?", ruft Stephen besorgt, was meinen früheren Gedanken bestätigt. Sie sieht tatsächlich aus, als wäre sie tot. Als Jade ihm antwortet, keuche ich erschrocken auf. „Noch nicht.", ertönt es mit kalter Stimme aus ihrem Mund, einer Stimme, welche ich nicht erkenne. „Nein.", flüstere ich fassungslos und starre auf den Bildschirm. Und während langsam Farbe in ihr Gesicht zurückkehrt und kein Blut mehr aus ihrer Wunde fließt, bete ich inständig, dass meine Jade wieder zurückkommt. Denn sollte sie die Benutzung dieser Fähigkeiten verändert haben, würde ich mir das nie verzeihen. Sie hat diese Fähigkeiten, diese verfluchten Gene von mir geerbt, doch sie sind schwächer, fordern einen Preis. Ich hoffe, sie kann dagegen ankämpfen. Stephen wirkt ebenfalls geschockt, doch er verbirgt es schnell, da er nicht will, dass es alle sehen. Schließlich öffnet Jade ihre Augen wieder und niemand außer mir sieht das kurze Aufblitzen von Rot darin, welches nach dem Bruchteil einer Sekunde wieder verschwunden ist. Doch ich habe es gesehen, auch wenn Jades Augen jetzt wieder braun sind. Das, was Jade da in sich trägt ist für sie gefährlicher als jede Waffe. Denn einer Waffe kann sie ausweichen, nicht jedoch ihren eigenen Genen. „Du machst dich hoffentlich nicht dafür verantwortlich.", ertönt plötzlich Samuels Stimme neben mir, woraufhin mein Blick zu ihm schießt. Er ist viel zu gut darin geworden, mich zu durchschauen. „Doch tue ich. Aber ich kann es ja doch nicht ändern. Alles woran ich jetzt denken will, ist, dass meine Tochter nicht gestorben ist.", erkläre ich und wende meinen Blick ab. Samuel starrt mich noch eine Weile zweifelnd an, dann seufzt er und wendet sich wieder dem Bildschirm zu. Leon steht auf und holt wie immer unser Abendessen. Er weiß, dass ich mich nicht von diesem Bildschirm wegbewegen werde. Jetzt erst recht nicht mehr. Als Leon wieder zurückkommt, esse ich ohne weiter hinzusehen, was immer er mir hingestellt hat, den Blick wende ich dabei nicht vom Bildschirm ab. Jade und Stephen essen ebenfalls gerade. Ich werde wohl bald versuchen, ihnen Nahrungsmittel zu schicken. Genug Sponsorengelder habe ich ja. Langsam leert sich der Raum, da die meisten Mentoren sich in ihre Zimmer zum Schlafen zurückziehen. Nur wenige bleiben hier und warten ab, ob vielleicht noch etwas passiert. Leon und Samuel sind noch hier, obwohl Leon gerade auf seinem Stuhl vor sich hin schnarcht. Das ist gestern auch schon passiert und genau wie gestern stehe ich auf und husche zu dem angrenzenden kleinen Raum, wo ich eine Decke für ihn hole. Nachdem ich sie ihm um die Schultern gelegt habe, nehme ich meinen Platz wieder ein. Samuel reibt sich immer wieder die Augen, doch er wirkt nicht so müde wie Leon, da er einige Zeit geschlafen hat während der Nacht und noch einmal kurz nach Mittag. Bestimmt fühlt er sich nicht so zerschlagen wie ich, doch ich kann nicht schlafen, während Jade in Gefahr ist. Ich kann nicht. Was, wenn sie angegriffen wird, während ich schlafe? Was, wenn sie stirbt? Ich kann es einfach nicht riskieren. Auch wenn mir immer wieder die Augen zufallen, ich reiße sie einfach gewaltsam wieder auf und starre weiter auf den Bildschirm, wo gerade gezeigt wird, wie sich alle Tribute für die Nacht einrichten und auf die Hymne warten. Ich weiß, wer zu sehen sein wird. Deswegen nutze ich auch diese Gelegenheit, um meine Augen etwas auszuruhen. Ich öffne sie erst wieder, als mein Kopf beinahe auf die Tischplatte knallt, weil ich eingenickt bin. Sofort bin ich wieder wacher und sehe, wie Samuel mir einen missbilligenden Blick zuwirft. „Geh schlafen, Ruby.", verlangt er und ich schüttle den Kopf. „Ich kann nicht. Ich kann sie nicht alleine lassen.", murmle ich und hoffe, dass ich durch den Schlafentzug nicht gereizt werde, so wie damals in meinen Spielen. Das wäre ganz und gar nicht hilfreich. Doch Samuel gibt nicht auf. „Ich passe hier auf und du schläfst einige Stunden. Falls etwas passiert, wecke ich dich und wenn du wieder wach bist, lege ich mich etwas hin.", erwidert er bestimmt und an seinem Tonfall höre ich, dass er mich wenn nötig an den Haaren aus dem Raum schleifen und dann an das Bett ketten würde. „Ich werde diesen Raum nicht verlassen.", erkläre ich stur und verschränke die Arme vor der Brust. Doch Samuel ist genauso stur wie ich. „Dann legst du dich eben auf das Sofa. Aber du wirst jetzt schlafen. Wenn du vor lauter Schlafmangel umkippst, hilft das den beiden sicher nicht.", entgegnet er und versucht mich immer noch zu überzeugen. Schließlich seufze ich schwer und gebe mich geschlagen. Ich hole eine weitere Decke aus dem anderen Raum und rolle mich dann darunter zusammen. Kaum berührt mein Kopf das Sofa, bin ich auch schon weg. Ich erwache ruckartig als eine Kanone ertönt und sehe an den Bildschirmen, dass es schon seit einer Weile hell ist in der Arena. Schnell begebe ich mich wieder auf meinen Stuhl und funkle Samuel wütend an. „Das war viel zu lange, du hättest mich wecken sollen.", zische ich, doch er zuckt nur die Achseln. „Es war das Mädchen aus Distrikt 8. Sie war im Fluss.", bemerkt er stattdessen und wendet sich wieder dem Bildschirm zu. Ich fühle mich schuldig, da mich bei dieser Nachricht sofort Erleichterung durchströmt. Nicht Jade, nicht Stephen. Sie sind beide noch am Leben. Doch bald werden ihnen die Lebensmittel ausgehen. Deswegen drücke ich einige Knöpfe und sehe wenige Minuten später, wie ein silberfarbener Fallschirm auf die beiden zufliegt. Wenigstens werden sie in nächster Zeit nicht verhungern. Doch Jemma und Toby haben soeben am Rand des Waldes ihre Fährte aufgenommen und beginnen die Verfolgung. Es könnte also bald vorbei sein. Wie ich diese Spiele hasse.



Ruby Shine 2 - Die RacheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt