Ich sitze auf dem kühlen Fels und beobachte, wie sich die Sonne langsam den Himmel hinaufkämpft und den Horizont in bunte Farben taucht. Ich habe Stephen nicht für eine Wache geweckt, da ich schon damit zufrieden bin, einfach meine Beine auszuruhen. Schon immer war ich besser darin ohne Schlaf auszukommen und eine schlaflose Nacht ist gar nichts. Ich bin es gewöhnt, denn zu Hause konnte ich auch manchmal nicht schlafen, vor allem, wenn Amy mal wieder einen ihrer Albträume hatte. Wann immer das passiert, liege ich die ganze Nacht wach und denke darüber nach, wie ungerecht es ist, dass meine kleine Schwester so viel Angst haben muss. Aber natürlich ist sie in diesen Situationen nie zu mir gekommen. Sie kriecht entweder zu Ethan ins Bett, oder Mom oder Dad kommen zu ihr. Ich selbst habe auch manchmal Albträume, aber genau wie Ethan versuche ich alleine damit klarzukommen, denn irgendwann müssen wir das. Irgendwann könnten wir alleine sein. Mein Blick wandert wie von selbst zu meinem besten Freund, der immer noch tief und fest schläft. Wovon er wohl träumt? Ich hoffe, dass er in seinen Träumen in Sicherheit ist, dass er dort nicht kämpfen muss oder verfolgt wird. Es reicht, wenn das tagsüber der Fall ist. Als die Farben des Sonnenaufgangs langsam verblassen, verlasse ich meinen Posten und begebe mich zu Stephen nach hinten. „Steph, aufwachen. Wir müssen los.", erkläre ich und sehe zu, wie er sich den Schlaf aus den Augen blinzelt. „Du hast mich ja gar nicht geweckt.", bemerkt er vorwurfsvoll. Ich zucke die Achseln. „Ich war nicht so müde. Du brauchtest den Schlaf dringender als ich.", entgegne ich und wende mich dann ab, um zu signalisieren, dass das Thema für mich erledigt ist. Steph seufzt auf und krabbelt dann aus seinem Schlafsack. Ich gebe ihm einen kleinen Teil der Kräcker, nehme mir ebenfalls etwas davon und verstaue den Rest wieder sicher in meinem Rucksack. Wir dürfen nichts davon verlieren. Wir schnallen uns unsere Waffen wieder um, werfen uns die Rucksäcke über die Schultern und verlassen dann die Höhle. Ich bin mir sicher, dass wir nicht zurückkehren werden. Wir müssen weiter vorankommen, um unseren Vorsprung zu behalten. Der Aufstieg ist etwas schwerer als gestern, manchmal rutscht einer meiner Füße ab, denn der Fels ist an manchen Stellen glatt geschliffen. Nach einer Weile entdecke ich etwas einige Meter über uns. „Da ist ein Pfad. Wenn wir den erreichen, wird es einfacher. Natürlich können da auch andere Tribute sein. Was meinst du, sollen wir das riskieren?", rufe ich nach unten und versuche einen Blick auf Stephen zu erhaschen, der irgendwo knapp unter mir an der Felswand hängt. „Ja, wir können nicht ewig so weiter machen. Wer weiß, ob es noch mehr Höhlen gibt.", schreit er zurück und ich greife nach dem nächsten Felsvorsprung. Wenn ich nicht zu viel nachdenke und mich einfach auf meine Instinkte verlasse, ist es viel leichter, die Strecke zu überwinden und so kann ich mich bald auf den Pfad hochziehen. Er ist nicht sehr breit, gerade so, dass zwei Leute nebeneinander gehen können, dabei jedoch gefährlich nahe am Abgrund sind. Ich drehe mich um und helfe Stephen nach oben, dann bleiben wir erst mal stehen und sehen uns um. Ich kann in keiner Richtung ein Ende des Pfades erkennen und so weiß ich auch nicht, in welche Richtung wir gehen sollen. Schließlich beschließe ich in die Richtung zu gehen, die vom Wald wegführt. Ich erkläre Stephen meine Wahl, dann machen wir uns wieder auf den Weg. Nach nur kurzer Zeit bleiben wir stehen und ziehen unsere Jacken aus, es ist einfach zu heiß hier. Stephen geht hinter mir her, immer ein wachsames Auge auf den Abgrund neben uns. Hin und wieder höre ich einen Vogel schreien, weswegen ich meinen Bogen von der Schulter nehme und einen Pfeil anlege. Noch einmal lasse ich mich nicht von Vogelmutationen überraschen. Plötzlich taucht wie aus dem Nichts eine relativ kleine Gestalt vor uns auf und automatisch spanne ich die Sehne. „Nicht schießen, bitte.", fleht eine raue Stimme und ich erkenne, die Person. Es ist das Mädchen aus Distrikt 3. Sie ist zwar schon 14, aber sehr klein für ihr Alter. Sie hat beide Hände erhoben, sie sind mit getrocknetem Blut verklebt, ihre braunen Haare sehen aus, als hätte ein Vogel darin genistet. Auch ihre Hose und ihre Jacke sind zerrissen, ich kann auch dort getrocknetes Blut erkennen, wenn auch nicht viel. Ich kann nicht anders, ich habe Mitleid mit ihr. „Stephen?" Ohne mich umzudrehen oder die Frage auszusprechen, wende ich mich an Steph. Er tritt näher an mich heran, mustert das kleine Mädchen einige Minuten lang, dann nickt er seufzend. Ich lasse den Bogen sinken und sie sackt erleichtert in sich zusammen. Ich strecke ihr meine Hand hin. „Ich bin Jade, das ist Stephen.", stelle ich uns vor, auch wenn ich nicht genau weiß, warum ich das tue. Dieses Mädchen sollte mein Feind sein, sie steht zwischen uns und unserer Heimkehr. Aber sie ist so jung und ich kann die Angst in ihren Augen sehen. Sie weiß, dass sie keine Chance hat, aber sie hat trotzdem Angst davor zu sterben. Sie starrt kurz etwas misstrauisch auf meine ausgestreckte Hand, dann schüttelt sie sie. „Ella. Irgendwie seid ihr ganz anders, als ich mir euch vorgestellt habe.", erwidert sie und zuckt dann zusammen, als hätte sie etwas Falsches gesagt. Ich muss grinsen. „Du dachtest, wir würden jeden Tribut töten, der uns über den Weg läuft, richtig?", rate ich und Ella nickt. „Willst du mit uns mitkommen?", frage ich obwohl ich mir innerlich einen Tritt verpasse. Ich sollte mich darauf konzentrieren entweder mich oder Stephen hier rauszubringen und nicht einsame Kinder aufsammeln und zu meinen Verbündeten machen. Ein zaghaftes Lächeln breitet sich auf Ellas Gesicht aus und sie nickt. Stephen tritt auf sie zu, ein Messer in seiner ausgestreckten Hand. Ella zuckt zurück und ich lege meine Hand auf Stephens Arm um ihn aufzuhalten. „Sie braucht eine Waffe.", erklärt er leise und hält Ella weiterhin das Messer hin. Sie wirft mir einen fragenden Blick zu und ich nicke ihr aufmunternd zu. Vorsichtig nimmt sie das Messer aus Stephens Hand und nickt ihm dankend zu. „Steph, geh du vor. Dann Ella und ich bilde das Schlusslicht.", bestimme ich und ohne Widerworte übernimmt mein bester Freund die Führung. Ella folgt ihm nach kurzem Zögern und ich schließe mich ihnen an. „Wo warst du bis jetzt, Ella?", will ich wissen, einerseits, weil ich neugierig bin, andererseits weil ich hoffe, dass es sie beruhigt, wenn wir reden. „Am ersten Tag bin ich mit Aaron, dem Jungen aus Distrikt 6 in die Wüste gegangen. Aber es war nicht wirklich eine Wüste. Nach ein paar Stunden haben wir eine Pause gemacht und als wir wieder weitergehen wollten, ist er auf einmal im Boden versunken. Dort ist überall Treibsand. Deswegen bin ich da so schnell wie möglich weg, nachdem Aaron tot war. Er hat das nicht verdient. Dann bin ich hierher und verstecke mich seitdem hier.", erzählt Ella und ich weiß jetzt, warum Mom will, dass ich mich von der Wüste fernhalte. Treibsand. „Tut mir leid wegen Aaron.", erwidere ich, auch wenn ich ihn nicht gekannt habe und eigentlich kein Mitleid mit den anderen Tributen haben sollte. Das funktioniert ja perfekt. „Danke.", entgegnet Ella leise und unsere Unterhaltung erstirbt. Ich lasse sie ihren Gedanken nachhängen. Eine Weile gehen wir schweigend, dann machen wir eine Pause und ich biete Ella etwas von meinem Wasser an, da ich an ihrer rauen Stimme erkennen kann, dass es ihr schon vor einer Weile ausgegangen ist. Sie nimmt es dankbar entgegen und setzt es gierig an die Lippen. „Nicht zu viel, ich weiß nicht, wo wir hier mehr herkriegen sollen.", ermahne ich sie und sie schraubt die Flasche wieder zu, während sie mir einen entschuldigenden Blick zuwirft. Ich nehme die Flasche wieder entgegen, da Ella keinen Rucksack hat, sondern nur einen kleinen Beutel. Die Flasche hätte darin keinen Platz mehr. Als sie wieder aufsteht und mich anlächelt, erinnert sie mich plötzlich an Amy. Ich weiß nicht woran es liegt, aber mit einem Mal sehe ich meine kleine Schwester in Ella. Stephen, der zuvor am Abgrund gestanden hat um nach möglichen Verfolgern Ausschau zu halten, setzt sich neben mich. Er schaut mich einige Sekunden lang schweigend an. „Amy.", rät er dann und ich nicke. Es überrascht mich nicht, dass Steph meine Gedanken erraten hat. Er kennt mich zu gut und ich habe keine Geheimnisse vor ihm. Außerdem kennt er auch meine kleine Schwester und es ist durchaus möglich, dass er dasselbe gesehen hat, wie ich. „Denkst du, dass es hier Eidechsen gibt?", meldet sich da Ella wieder zu Wort. Ich wende mich ihr zu und zucke die Achseln. „Schon möglich. Gesehen habe ich aber noch keine.", bemerke ich und lehne mich etwas zurück, bis ich den rauen Fels in meinem Rücken spüre. Ich schließe meine Augen und horche nach verräterischen Geräuschen. Doch was mich meine Augen wieder aufreißen lässt, ist kein Vogel oder ein Verfolger. Es ist Ellas schriller Schrei, als sich etwas vor ihr bewegt. Vor Angst macht sie einen Schritt zurück...und tritt ins Leere. Panisch reißt sie ihre Augen auf, als sie nach hinten kippt, ihre Arme rudern wirkungslos in der Luft. Ich hechte auf sie zu, so schnell habe ich mich noch nie zuvor bewegt und greife nach ihrem Arm. Ich bekomme ihn zu fassen, kurz bevor sie außer Reichweite ist. „Ella!", höre ich Stephen hinter mir rufen. Ella wimmert und schreit, voller Panik. „Jade! Hilfe!", fleht sie mich an und ich verstärke mit zusammengebissenen Zähnen meinen Griff. Ich kann sie nicht loslassen, doch meine Hand ist so verschwitzt, dass Ella immer weiter nach unten rutscht. Ich kann sie nicht hochziehen. „Nein.", keuche ich und greife mit meiner zweiten Hand ebenfalls nach ihr. „Nimm meine Hand, Ella.", rufe ich und versuche meine Verzweiflung zu unterdrücken. Ich kenne dieses Mädchen kaum, ich sollte nicht so fühlen. Doch sie ist so klein, so jung und erinnert mich an Amy. „Ich kann nicht.", schreit sie panisch und ich halte nur noch ihre Hand. Ich spüre, wie sie meinem Griff entgleitet und verstärke ihn nochmal. Doch es ist zu spät. „Neeeiiiin.", schreie ich, als sich ihre Hand aus meiner löst und Ella mit einem schrillen Schrei in die Tiefe stürzt. Ich presse meine Augen fest zusammen, ich will nicht sehen, wie sie unten aufschlägt. Nach einer kleinen Ewigkeit ertönt eine Kanone und ich weiß, dass Ella tot ist. Ich schluchze auf und versuche dann krampfhaft meine Gefühle zu unterdrücken. Die Kälte wallt wieder auf, doch ich kämpfe sie nieder, ich kann mich jetzt nicht hinter dieser Mauer aus Eis verstecken. Ich muss immer noch Stephen beschützen. Steph braucht mich. Ich atme mehrmals tief durch, dann öffne ich meine Augen wieder und stehe auf. Ich klopfe mir den Staub von meiner Kleidung und wende mich dann an Stephen, welcher geschockt dorthin starrt, wo Ella gerade noch hing. Ich atme noch einmal tief ein. „Wir können nicht hierbleiben.", erkläre ich mit monotoner Stimme, etwas Besseres bringe ich nicht zu Stande. Stephen nickt abwesend und dreht sich dann wortlos um, nimmt seine Sachen und geht in die vorherige Richtung weiter. Ich folge ihm ebenso schweigsam. Ich will nicht reden, nicht darüber nachdenken. Ich will die Monotonie meiner Schritte meine Gedanken betäuben lassen und einfach nur vergessen. Vergessen wo ich bin, vergessen, dass ich dieses kleine Mädchen nicht retten konnte. Will ihre verzweifelten Hilferufe vergessen. Doch sie scheinen in mein Gehirn eingebrannt. Kurz vor Sonnenuntergang entdecken wir eine weitere Höhle nur wenige Meter über dem Pfad und klettern hinauf. Diese ist etwas kleiner als die letzte und wir haben auch kein Holz mehr für ein Feuer. Wortlos verziehe ich mich ganz nach hinten und verkrieche mich in meinem Schlafsack. Ich beobachte, wie das Licht an der Höhlenwand immer schwächer wird und bevor es ganz erlischt, hält mir Steph eine Hand voll Trockenfleisch unter die Nase, die ich automatisch esse. Dann ziehe ich mir den Schlafsack über den Kopf und schließe meine Augen. Als die Hymne ertönt, ignoriere ich sie. Ich weigere mich, Ellas Bild dort zu sehen. Kurz bevor ich einschlafe, läuft mir eine vereinzelte Träne über die Wange. Ich werde nie wieder zulassen, dass mir ein anderer Tribut so nahe kommt.
DU LIEST GERADE
Ruby Shine 2 - Die Rache
FanfictionZwanzig Jahre sind vergangen seit Ruby Shine durch Zufall die 18. Hungerspiele gewonnen. Und sie hat nicht als einzige überlebt. Damit Rubys ursprünglicher Plan, diese Spiele ohne Sieger zu beenden, fehlschlägt, hat Präsident Snow sowohl sie als auc...