1 Ruby Leben vor den Spielen

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Schwungvoll öffne ich die Haustüre. Die Tasche mit den Einkäufen hängt über meiner Schulter, in meiner Hand habe ich noch eine mit Jades und Amys Erntekleidern und Ethans Anzug. Ich kaufe ihnen jedes Jahr neue Sachen für die Ernte, weil sie aus den alten im nächsten Jahr schon wieder herausgewachsen sind. Für Jade habe ich diesmal ein Kleid in einem hellen Grün gefunden, das perfekt zu ihrem Namen passt, Ethan bekommt einen dunkelblauen Anzug und Amy ein knielanges silbern schimmerndes Kleid. Ich stelle die Tasche mit den Kleidern an die Treppe und gehe dann weiter in die Küche. Dort ist Noel schon eifrig am Werk, denn wir haben vor Jades zwölftem Geburtstag eine Tradition eingeführt. Jeden Abend vor dem Tag der Ernte kommt unsere ganze vergrößerte Familie zu uns zum Essen, damit keiner herumsitzen und grübeln kann. Alle werden da sein. Außer Tyler, der vor kurzem einen Unfall hatte und deswegen nicht aus dem Krankenhaus raus kann. Glücklicherweise wissen wir jedoch inzwischen, dass er sich wieder vollkommen erholen wird. Deswegen hat er auch darauf bestanden, dass Helen ohne ihn kommt. Ich lasse die Tasche von meiner Schulter auf die Küchentheke gleiten und umarme Noel dann von hinten. „Bin wieder da.", verkünde ich grinsend. Auf seinem Gesicht breitet sich ein Lächeln aus. „Gut.", erwidert er und küsst mich kurz, ehe er sich wieder den Pfannen zuwendet. „Ich habe dir das, was du noch brauchst hier hingelegt." Ich lasse ihn los und deute auf die Tasche. Noel nickt und lächelt mich an. „Danke." Ich küsse Noel auf die Wange und verlasse dann die Küche wieder. Ich schnappe mir die andere Tasche wieder und gehe die Treppe hinauf zu den Zimmern meiner Kinder. In allen dreien herrscht wie so oft Chaos und so beschließe ich, sie heute aufzuräumen, obwohl ich sonst immer darauf bestehe, dass sie es selbst tun. Ich beginne mit Jades Zimmer und hebe erstmal alle Kleidungsstücke auf, die im Raum verstreut sind. Es sind deutlich weniger als bei Ethan. Das muss wohl so eine Jungssache sein, die ich nicht verstehe. Lange dauert es nicht, bis alle drei Zimmer zu meiner Zufriedenheit aufgeräumt sind und ich das Ernteoutfit in das jeweilige Zimmer hängen kann. Dann schließe ich sämtliche Türen wieder und kehre in die Küche zurück, wo ich mich auf einen Stuhl fallen lasse und Noel beim Kochen beobachte. Wir müssen nicht einmal mit einander reden, es reicht mir schon ihn anzusehen, seinen konzentrierten Gesichtsausdruck, wie er inzwischen genau weiß, was er tun muss, damit das was er kocht gelingt. Zwar habe ich mich auch etwas verbessert, aber Noel ist derjenige in der Familie, der eigentlich immer kocht. Da höre ich wie sich die Haustür öffnet und jemand mit leisen Schritten den Gang entlang geht. Ich erhebe mich und begebe mich ebenfalls in den Flur. „Hallo Amy, wie war es in der Schule?", frage ich sie wie beinahe jeden Tag. Für sie endet die Schule früher als für Jade oder Ethan, weil sie noch jünger ist. Ab nächstem Jahr hat Jade die Schule abgeschlossen und muss entscheiden, was sie jetzt machen will. Vielleicht beginnt sie eine Ausbildung zur Trainerin in der Akademie, obwohl das eher das ist, was Ethan machen will. „Hi Mom. Eigentlich wie immer, nichts Besonderes.", antwortet Amy, doch ich höre in ihrem Tonfall, dass irgendetwas nicht stimmt. Ich nehme ihr ihre Tasche ab und ziehe sie ins Wohnzimmer, wo wir uns dann auf das Sofa setzen. „Was ist los?", frage ich besorgt. Amy seufzt. „Nichts eigentlich. Es ist nur...morgen ist Ernte und alle reden schon darüber. Alle sprechen davon sich freiwillig melden zu wollen und was es nicht für eine Ehre ist. Aber keiner weiß wirklich, was sie dort erwartet. Und alle erwarten von mir, dass ich dasselbe denke. Dass ich mich irgendwann freiwillig melden werde, weil du meine Mom bist und eine Siegerin. Sie denken, dass du uns trainierst, weil du das willst. Ich weiß einfach nicht, wie ich damit umgehen soll. Ich habe Angst, Mom.", erklärt sie mir, wobei ihre Stimme immer leiser wird und der letzte Satz kaum noch zu hören ist. Ich ziehe meine Tochter an mich und drücke sie fest. „Ich verstehe, dass du Angst hast. Wenn ich ehrlich bin, dann habe ich auch Angst. Aber keiner von euch ist bis jetzt ausgewählt worden und wie du schon gesagt hast, es gibt genügend Menschen, die sich freiwillig melden werden. Selbst, wenn du gezogen werden solltest, die Chance, dass du wirklich in die Spiele ziehen musst, ist unglaublich klein. Das ist es an was ich glaube, was mir mit meiner Angst hilft. Vielleicht kann es für dich dasselbe tun.", versuche ich Amy zu beruhigen. Es reicht schon, wenn ich vor Angst kaum Schlaf finde, meine Kleine soll es besser haben. Amy sieht genauso aus wie ich mit 14 Jahren ausgesehen hätte, wenn sie nicht an mir herumexperimentiert hätten. Sie kann ein normales Leben haben. Das ist es, was ich mir mehr als alles andere für sie wünsche. Amy kuschelt sich an mich und schließt die Augen. „Danke, Mom." Ich lächle sie aufmunternd an. „Du solltest in die Küche gehen. Vielleicht braucht dein Dad deine Hilfe.", schlage ich vor und lasse sie los. Immer noch sind Jade, Ethan, Amy und Noel die einzigen, von denen ich mich gerne umarmen lasse. Das wird sich wohl nie ändern. Amy nickt und folgt dann meinem Vorschlag. Falls sie immer noch Angst hat, kann Noel diese mit Sicherheit wirkungsvoller vertreiben. Ich habe darin nicht viel Übung, alles was ich tue, ist nur versuchen die Wahrheit zu sagen. Es kommt mir falsch vor, meinen Kindern Lügen zu erzählen, wie ‚Alles wird gut'. Sie wissen, dass das gelogen ist. Innerhalb von einer Sekunde kann alles den Bach runter gehen und ich könnte es nicht verhindern. Ich kann nur tatenlos zusehen. Ich schüttle den Kopf, um diese Gedanken zu vertreiben und stehe auf, um in die Küche zu gehen und anzufangen, den Tisch zu decken. So bin ich beschäftigt, bis Jade und Ethan von der Schule kommen. Ich muss dauernd daran denken, wie ich mich vor jeder Ernte gefühlt habe, als ich noch jung war. Ich hatte nie Angst. Ich hoffte, gezogen zu werden, damit ich meine Rachefantasien in die Tat umsetzen konnte. Ein Glück kommen meine Kinder in dieser Hinsicht nicht nach mir. Ja, sie können kämpfen und Jade und Ethan kämpfen auch gerne, aber keiner von ihnen will um sein Leben kämpfen müssen oder jemanden töten. Am allerwenigsten Amy. Sie will später Ärztin werden, um so Menschen helfen zu können. Wie sollte so jemand in den Spielen überleben? Ich bin so tief in Gedanken versunken, dass ich gar nicht merke, als mir ein Teller aus der Hand gleitet. Ich zucke zusammen und warte auf das Klirren, wenn er auf dem Boden aufschlägt, doch es kommt nicht. Amy steht neben mir und hat es aufgefangen. „Tut mir leid.", murmle ich. Diamond stellt den Teller auf den Tisch und schlingt die Arme fest um mich. „Mir tut es leid, Mom. Dass ich dich noch mehr beunruhigt habe." Ich lächle und streiche ihr über die braunen Haare. „Es muss dir nicht leid tun. Es ist mir lieber, wenn du mir erzählst, was dich beschäftigt. Nur so habe ich die Chance dir zu helfen.", erwidere ich leise. Dann schiebe ich sie wieder ein Stück von mir weg. „So, was hältst du davon, wenn wir den Tisch gemeinsam decken? Dann sind wir viel schneller fertig." Amy lächelt mich an und nickt. Dann gehen wir zurück in die Küche und holen die restlichen Sachen für den Tisch. Als ich ohne Amy in die Küche zurückkehre, sieht Noel von seinen Pfannen auf und wirft mir einen besorgten Blick zu. „Alles okay mit dir?" Ich nicke schnell. „Ja, alles in Ordnung. Nur das übliche. Kein Grund zur Sorge, das geht wieder vorbei.", versuche ich ihn zu beruhigen. Er nickt schnell, obwohl er nicht überzeugt wirkt. Aber das Essen beansprucht einen großen Teil seiner Konzentration und so bohrt er nicht nach. Ich weiß jedoch, dass er das später nachholen wird, wenn wir wieder alleine sind, nachdem alle wieder gegangen sind. Doch jetzt müssen sie erstmal kommen. Ich sehe, wie Amy auch wieder in die Küche kommt. Sie setzt sich gegenüber von Noel an die Theke. „Daddy, kann ich dich mal was fragen?" Sie nennt Noel nicht mehr so oft Daddy wie früher, darum sieht er sofort auf, als sie es tut. „Natürlich, Amy, frag nur.", antwortet er lächelnd. „Wünschst du dir manchmal, du hättest dich nicht für die Spiele gemeldet?", platzt Diamond heraus, so als wollte sie die Frage schnell stellen, ehe sie es sich wieder anders überlegen kann. Noel sieht sie überrascht an, dann schüttelt er den Kopf. „Nein. In den Spielen zu sein war schrecklich, keine Frage, aber wenn ich nicht gegangen wäre, dann hätte ich deine Mutter nie kennengelernt und dich und deine Geschwister würde es nie geben. Und ihr seid das Beste, was mir jemals passiert ist, also kann ich mir nicht wünschen, mich nicht gemeldet zu haben.", antwortet er und zaubert mir damit ein Lächeln auf die Lippen. Amy nickt nachdenklich und ist offenbar zufrieden mit der Antwort. Sie hätte vermutlich noch mehr gefragt, doch in dem Moment geht die Haustüre erneut auf und nach kurzer Zeit betreten Jade und Ethan die Küche. Ethan geht sofort auf seine kleine Schwester zu. „Hey, Ames, alles klar?", begrüßt er sie grinsend. Er ist der einzige, der Amy so nennt und er tut es auch nicht immer. Es ist sein Spitzname für sie, aus der Zeit als er ihren Namen noch nicht aussprechen konnte. Statt Diamond sagte er immer Ames zu ihr, vor allem, wenn wir sie Amy nannten. Und irgendwie ist der Name geblieben. Amy hüpft vom Hocker und umarmt Ethan schnell. „Alles gut, Dany.", erwidert sie grinsend, als sie ihn wieder los lässt. Ich weiß, dass Ethan mehr Angst hat, dass Amy gezogen wird, als er selbst. Ganz der große Bruder will er sie immer beschützen. Jade winkt nur kurz und verschwindet dann nach oben, um ihre Tasche in ihr Zimmer zu bringen. „Du solltest deine Tasche auch nach oben tragen, bald werden unsere Gäste kommen.", wende ich mich an Ethan. Er grinst mir zu. „Klar doch, Mom." Dann zwinkert er Amy zu und läuft die Treppe hoch. In dem Moment klopft es an der Haustür. Ich werfe Noel einen Blick zu und er lächelt mir aufmunternd zu. Ich erwidere das Lächeln und trete in den Flur, um die Tür zu öffnen. Dahinter kommt zuerst nur meine Schwester zum Vorschein. „Ruby, schön dich zu sehen. Es ist viel zu lange her.", begrüßt Crystal mich überschwänglich und fällt mir um den Hals. Wir haben uns letzte Woche das letzte Mal gesehen, aber sie benimmt sich als wäre es mindestens Monate her. Hinter ihr folgen Lucas, Damion und Sydney. Ich umarme alle drei kurz, obwohl ich mich immer noch nicht an alle diese Berührungen gewöhnen kann. Dann schließe ich die Tür wieder und begleite sie zum Esstisch. Noel begrüßt die vier mit einem schnellen Lächeln und Winken und widmet sich dann wieder seinem fast vollendeten Menü. Amy hingegen kommt ihnen entgegen und umarmt jeden von ihnen. Sie bringt sie an den Tisch während ich wieder an die Tür gehe, da es erneut geklopft hat. Dieses Mal ist es Leon. Er steht leicht unbehaglich im Türrahmen, wie jedes Jahr. „Bist du sicher, dass ich nicht störe? Ich meine, ich gehöre nicht zur Familie.", will er wissen und obwohl er mir diese Frage schon oft gestellt hat, beantworte ich sie jedes Mal wieder. „Du störst nicht. Ich habe nicht sehr viele Freunde und du bist einer davon. Ich freue mich, wenn du dabei bist und Noel genauso.", beantworte ich lächelnd seine Frage und mache den Weg frei, damit er eintreten kann. Ich muss die Tür gar nicht mehr hinter ihm schließen, denn ich sehe schon Helen und Stephen um die Ecke biegen. Ich komme ihnen ein Stück entgegen und schließe Helen in die Arme. Sie umarme ich, weil ich es selbst will, nicht weil es sich so gehört. „Es freut mich, dass du es geschafft hast. Wie geht es Tyler?", begrüße ich sie leise. Helen löst sich von mir und sieht mich lächelnd an, ihre Augen blicken jedoch traurig. „Besser, wenn auch nur ein bisschen. Aber sie sind optimistisch, dass er bis zum Ende dieser Spiele entlassen werden kann.", erklärt sie und ich kann die Erleichterung in ihrer Stimme hören. „Das ist gut. Kommt doch rein." Helen nickt und ich begrüße auch noch Stephen, indem ich ihm die Hand gebe. Ich denke es wäre für ihn genauso komisch mich zu umarmen, wie für mich. Als wir an der Treppe vorbeikommen, poltern gerade Ethan und Jade wieder nach unten. Als Jade Stephen sieht, breitet sich ein Grinsen auf ihrem Gesicht aus. „Hey, Steph.", ruft sie. „Hey, Cat.", erwidert er und grinst ebenso breit zurück. Dann begeben wir uns alle zum Esstisch. Ich sitze an der Stirnseite des Tisches, der Platz links neben mir ist noch leer, dort wird Noel gleich sitzen. Rechts von mir sitzt Helen, neben ihr Stephen und Jade. Leon sitzt mit Ethan und Amy neben Noel, während sich Crystal mit ihrer Familie ans andere Ende des Tisches gesetzt hat. Überall sind laute Gespräche im Gange. Meine gesamte Familie ist versammelt und diese Tatsache macht den Gedanken an die morgige Ernte erträglich. In dem Moment kommt Noel mit einer Platte, auf der sich der Braten, an dem er den ganzen Tag schon gearbeitet hat, und eine große Auswahl an Beilagen befindet. „In der Küche gibt es auch noch Kuchen für später.", verkündet er stolz und setzt sich an seinen Platz neben mir. Bei dem Gedanken an Kuchen muss ich kichern. Noel wirft mir einen fragenden Blick zu. „Was ist so witzig?", fragt er. „Ich musste nur gerade an den Kuchen denken, den ich gemacht habe, kurz nachdem du hier eingezogen bist." Wieder muss ich kichern. Noel lacht auf. „Ach, meinst du etwa dieses verkohlte unförmige Etwas, mit dem du fast die Küche abgefackelt hättest?", neckt er mich. „Genau das." Ich würde diesen Tag niemals vergessen können. Es war der erste Tag, an dem ich wirklich glauben konnte, dass alles besser werden könnte. Der restliche Abend verläuft in ausgelassener Stimmung, nicht einmal die morgige Ernte schafft es, uns das zu zerstören. Wie ich mir wünsche, dass es jeden Tag so sein könnte. Unbeschwert. Leon ist der letzte, der geht. „Wir sehen uns dann morgen, Ruby.", verabschiedet er sich lächelnd. Ich weiß, dass er diese Abende genauso gerne mag wie ich. Ich nicke und winke ihm zum Abschied. Dann schließe ich die Tür und lehne mich erschöpft dagegen. Nach kurzer Zeit stoße ich mich wieder ab und kehre zu meiner Familie zurück. Die vier sind gerade damit beschäftigt, den Abwasch zu machen und aufzuräumen. Da sie aber schon fast fertig sind, beschließe ich, dass Noel und ich den Rest übernehmen können. „Ihr solltet schlafen gehen. Ihr braucht allen Schlaf den ihr kriegen könnt für morgen." Alle drei nicken sie, beenden ihre Arbeit und murmeln nacheinander ‚Gute Nacht, Mom' während sie an mir vorbeigehen. Ich gehe wortlos zu Noel und wasche die restlichen Teller ab. Er trocknet sie und stellt sie wieder in den Schrank. Auch er sagt nichts. Bald sind wir mit den Tellern fertig und gehen gemeinsam nach oben in unser Zimmer. Schnell ziehen wir uns um und dann kuschle ich mich zu Noel ins Bett. „Du machst dir wieder Sorgen oder? Wegen morgen.", flüstert Noel mir zu. Ich nicke und sehe zu ihm auf. „Ich kann nicht anders. Snow hat mich gehasst, wie groß ist die Chance, dass mich sein Sohn in Ruhe lässt?", erwidere ich ebenso leise. „Egal, was morgen passiert. Wir stehen das durch. Gemeinsam. So wie alles andere auch.", versichert er mir und drückt mir einen Kuss in die Haare. Ich nicke wieder und schließe die Augen. Und tatsächlich bewirken Noels Worte etwas. Ich kann diese Nacht ohne Albträume schlafen und das obwohl mich, wenn ich aufwache mein Geburtstag erwartet und somit der Tag des Jahres, den ich am wenigsten leiden kann.

Ruby Shine 2 - Die RacheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt