2 Ruby Der Albtraum beginnt

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Ich erwache früh, viel früher als gewöhnlich. Noel neben mir schläft noch tief und fest und ich weiß genau, dass er in den nächsten paar Stunden nicht aufwachen wird. Naja außer ich wecke ihn. So leise wie möglich stehe ich auf und schleiche mich aus dem Zimmer. Wie immer, wenn ich so früh auf den Beinen bin, werfe ich einen Blick in die Schlafzimmer meiner Kinder. Jade liegt in ihrem Bett und schläft tief und fest, jedoch hat sie ihre Decke beinahe vollständig vom Bett geworfen. Ich lächle still und schließe die Tür wieder. Amys Zimmer ist leer, jedoch verfalle ich nicht in Panik. Es ist ein vertrauter Anblick. Anders als andere Kinder kriecht Amy nämlich bei einem Albtraum nicht zu mir und Noel ins Bett, sondern zu ihrem Bruder. Und tatsächlich finde ich Amy in Ethans Zimmer vor, sie liegt neben ihm im Bett, ihre Gesichter einander zugewandt. Es scheint Ethan nichts auszumachen, dass Amy sich immer wieder nachts in sein Zimmer schleicht, denn er hat sich noch nie beschwert oder ihr gesagt, sie solle es lassen. Ich rechne auch nicht damit, dass er das jemals tun wird. Als ich auch diese Tür wieder schließe, beschließe ich, dass ich mich nicht wieder schlafen legen kann. Also husche ich schnell in Noels und mein Zimmer zurück und ziehe mich so schnell und leise es geht an. Dann laufe ich die Treppe hinunter, schnappe mir eine Jacke, da es zu dieser frühen Tageszeit noch ziemlich frisch draußen ist und verlasse das Haus. Ich bleibe auf der Veranda stehen, schließe die Augen und atme einmal tief durch. Die kühle Luft verschafft mir einen klareren Kopf und ich kann endlich meine Gedanken richtig ordnen. Ich muss mich vorbereiten und ruhig werden, denn jedes Jahr muss ich meine Rolle erneut spielen. Ich darf weder bei der Ernte, noch im Kapitol zeigen, wie sehr mich diese Spiele anwidern oder wie große Angst ich habe, dass eines Tages meine Kinder gezogen werden. Ich muss wieder Karriero spielen, selbst wenn nicht ich es bin, die in die Arena zieht. Alle erwarten das von mir und ich muss diesen Erwartungen gerecht werden. Denn ich hoffe, dass ich, wenn ich mich so gebe, wie es Snow erwartet, mein Leben wie bisher weiterleben kann. Unbehelligt vom Kapitol und den Spielen. Entschlossen öffne ich meine Augen wieder und mache mich auf den Weg, um das Siegerviertel zu verlassen. Kurz vor der Grenze zum Rest von Distrikt 2 ertönt hinter mir eine vertraute Stimme. „Na? Kannst du auch nicht schlafen?" Ich drehe mich um und erblicke Leon, der mich mit wissendem Blick beobachtet. Ich schüttle den Kopf. „Natürlich nicht. Das kann ich nie vor der Ernte.", erwidere ich achselzuckend. „Willst du lieber alleine sein?" Er sieht mich abwartend an. Eigentlich wollte ich das schon, doch jetzt gerade fühle ich mich wohl in seiner Gegenwart. Schon bald müssen wir gemeinsam ins Kapitol fahren. Da können wir genauso gut jetzt schon gemeinsam herumlaufen. „Nein, schon gut. Ich will zum Fluss, nachdenken. Willst du mitkommen?", biete ich ihm an, obwohl ich weiß, dass kaum jemand aus Distrikt 2 jemals am Fluss war, geschweige denn hin will. Doch Leon ist nicht wie die anderen und so nickt er. Leon hat mir schon in so manchen Jahren während der Spiele geholfen einen kühlen Kopf zu bewahren. Manchmal, sehr selten, hat er kurze Phasen, wo er abdriftet und nichts mehr um sich herum wahrnimmt. Dann weiß ich, dass ich ihn wieder zurückholen muss, weil er in Erinnerungen an seine Arenazeit gefangen ist. So helfen wir uns gegenseitig durch unsere Zeit als Mentoren. Seit seinen Spielen hat er keine Waffe mehr angerührt, im Gegensatz zu mir. Ich trainiere immer noch regelmäßig, einerseits um meinen Kindern Tipps geben zu können andererseits, weil ich immer noch auf eine erneute Rebellion hoffe und dann in der Lage sein will mitzukämpfen. „Was glaubst du, wie lange wir das noch machen werden? Mentoren sein meine ich.", fragt Leon, als wir gerade erst wenige Schritte hinter uns gelegt haben. Ich schaue ihn überrascht an. „Keine Ahnung. Ich meine, ich bin schon zwanzig Jahre lang Mentor und du 14 Jahre. Das ist ziemlich lange. Schon möglich, dass bald jemand kommt und uns ablöst. Irgendein Karriero von hier wird es wohl doch mal schaffen zu gewinnen. Ist ja erbärmlich, wenn sie ihr Leben lang trainieren, nur um dann doch zu sterben.", erwidere ich nachdenklich. Meiner Meinung nach ist es auch erbärmlich, sich freiwillig zu melden, weil ein Sieg Ruhm bringt. Aber das spreche ich nicht laut aus. Leon nickt und den restlichen Weg plaudern wir nur über belanglose Sachen wie das Wetter oder den gestrigen Abend. Dann kommen wir endlich an unserem Ziel an. Meine Lieblingsstelle am Fluss hat sich kaum verändert, seit ich sie gefunden habe. Hier ist immer noch mein Rückzugsort, auch wenn ich ihn im Laufe der letzten Jahre immer weniger brauche. „Ich habe kein gutes Gefühl wegen heute. Ich weiß nicht. Es ist, als würde irgendwas passieren, aber ich weiß noch nicht genau, was.", sprudle ich endlich hervor. Das ist es, was mich die ganze Zeit beschäftigt. Aus irgendeinem Grund fühlt sich die alljährliche Angst anders an. Als stünde das, wovor ich Angst habe, kurz bevor. Und das obwohl ich mich inzwischen davon überzeugen kann, dass vermutlich weder Jade noch Ethan oder Amy in die Spiele müssen. Es gibt viel zu viele Karrieros. Trotz allem lässt sich diese nagende Sorge nicht abschütteln, sie klebt an mir wie ein Schatten. „Weißt du schon, dass sie in der Akademie neue Regeln aufgestellt haben? Die Trainer bestimmen, wer bereit ist für die Spiele und nur die dürfen sich freiwillig melden. Natürlich können sie sich auch den Trainern widersetzen, aber wer meldet sich schon freiwillig, wenn von vornherein klar ist, dass man stirbt." Überrascht starre ich Leon an. Davon wusste ich nichts. „Wie viele dürfen sich dieses Jahr melden?" Ich muss diese Frage einfach stellen, auch wenn mir die Antwort vermutlich nicht gefallen wird. „Außer Jade und Ethan nur drei andere. Zwei Jungen und ein Mädchen. Aber ich weiß ja, dass sich weder Jade noch Ethan melden werden.", erklärt Leon. Bei diesen geringen Zahlen kann es durchaus sein, dass sich keiner meldet aus Feigheit. Vielleicht ist mein schlechtes Gefühl ja doch begründet. Ich schüttle den Kopf. Nicht daran denken, es wird nicht passieren. Ich werde ins Kapitol fahren und meine Kinder werden sicher zu Hause zurückbleiben, wie jedes Jahr. Daran muss und werde ich glauben. Nach diesem Gespräch versinken wir in Stille und ich beobachte schweigend, wie die Sonne immer höher klettert. Schließlich erhebe ich mich mit vom langen Stillsitzen steifen Gliedern. „Wir sollten zurückgehen, sonst macht sich Noel noch Sorgen, wohin ich verschwunden bin." Leon widerspricht nicht und so machen wir uns auf den Rückweg. Ich verabschiede mich von Leon, als wir bei seinem Haus ankommen und betrete dann mein eigenes. Sobald ich die Tür wieder geschlossen habe, steuere ich zielstrebig die Küche an, denn es liegt der Geruch nach Frühstück in der Luft. Noel fängt mich an der Küchentür ab und grinst mich an. „Guten Morgen. Alles Gute zum Geburtstag, Ruby." Ich lächle und statt einer Antwort, küsse ich ihn. Dann führt er mich in die Küche, wo schon Jade, Ethan und Amy auf mich warten. Sie umarmen mich gleichzeitig und gratulieren mir ebenfalls zur selben Zeit, sodass ich kein Wort mehr verstehe, doch es stört mich kein bisschen. Sie tragen noch nicht ihre Kleidung für die Ernte, die ziehen sie erst später an. Als wir uns jedoch zum Frühstück an den Tisch setzen, ist die Stimmung betrübt. Jeder Versuch Noels eine Konversation in Gang zu bringen scheitert an wortkargen Antworten und bald gibt er es auch auf und lässt alle ihren Gedanken nachhängen. Ich habe schon vor Jahren erfolgreich durchgesetzt, dass ich keine Geschenke haben will an meinem Geburtstag und so gibt es auch nichts mehr, was wir sonst an Geburtstagsaktivitäten noch vor der Ernte einschieben könnten. Deswegen schicke ich Jade, Ethan und Amy nach oben umziehen und folge ihnen dann um mir selbst andere und vor allem saubere Sachen anzuziehen. Die Zeiten in denen ich am Tag der Ernte ein Kleid getragen habe sind schon lange vorbei, inzwischen trage ich immer einfache, wenn auch teure Kleidung. Heute ist das eine schwarze, eng anliegende Hose und ein dunkelrotes Top mit langen Ärmeln. Dann begebe ich mich wieder nach unten um die restliche Zeit noch mit Noel zu verbringen. Er wartet schon unten, wie jedes Jahr und schließt mich in die Arme. Ich schließe die Augen und lehne mich gegen ihn. „Du wirst mir fehlen.", gebe ich zu. „Du mir auch.", erwidert er flüsternd. „Hast du an das Geschenk für Crystal gedacht?", wechsle ich das Thema. Meine Schwester feiert ebenfalls heute ihren Geburtstag und im Gegensatz zu mir verspürt sie keine Abneigung gegen Geschenke. Daher besorgt Noel jedes Jahr etwas und überreicht es ihr nach der Ernte. Und natürlich hat er es auch dieses Jahr nicht vergessen, hat er noch nie. „Es liegt in einer Kommode in unserem Zimmer und wartet darauf, dass ich es deiner Schwester gebe." Ich schlinge meine Arme noch etwas fester um ihn. Er ist gerade so viel größer als ich, dass mein Gesicht an seiner Halsbeuge ist, wenn ich so nahe bei ihm stehe. „Ich will nicht gehen.", murmle ich, wohl wissend, dass weder er noch ich etwas daran ändern können. „Du kommst doch bald wieder zurück. Und außerdem weißt du, dass du jederzeit anrufen kannst. Ich würde ja mitkommen, aber ich denke nicht, dass mehr als einmal klug ist und es muss ja auch jemand bei den Kindern bleiben." Er versucht mich aufzuheitern, natürlich, das ist es, was er jedes Jahr tut. Manchmal frage ich mich, wie er es mit mir aushält. Doch er hat sich noch nie über meine ständigen Ängste beschwert. Und wenn ihn etwas stört, dann sagt er es mir, denn er weiß, dass es das ist, was ich mir von ihm wünsche. Widerstrebend löse ich mich von ihm, als ich laute Schritte auf der Treppe höre. „Und los geht's.", verkünde ich, mehr zu mir als zu Noel. Unsere Kinder erscheinen im Türrahmen. Zum ersten Mal sehe ich sie in den Sachen, die ich ihnen gestern besorgt habe. Erstaunlicherweise habe ich für jeden von ihnen genau die richtige Farbe besorgt. „Jetzt aber los, sonst kommen wir zu spät und das dürfen wir auf keinen Fall.", erkläre ich und Noel geht vor zur Tür. Er öffnet sie und lässt unsere Kinder als erste durch. Dann wartet er auf mich, nimmt meine Hand und lässt die Tür hinter uns ins Schloss fallen. Vor uns halten sich Ethan und Amy ebenfalls an den Händen und ich höre wie Ethan leise auf seine kleine Schwester einredet. Jade hingegen geht alleine, jedoch nahe an ihren Geschwistern, als würde die Nähe ihr Mut geben. Ich hoffe, dass es so ist. Wie jedes Jahr fühlt sich dieser Gang an wie ein Déjà-vu, so als wären wieder die 18. Hungerspiele und ich bin kurz davor mich freiwillig zu melden. Damals, als ich so alt war wie Ethan es jetzt ist, war ich genauso auf dem Weg zur Ernte und genau wie damals muss ich auch heute auf die Bühne. Es wird nie einfacher. Viel zu schnell kommen wir zu dem Platz, auf dem sich schon in Massen die Jugendlichen drängen. Ich verabschiede mich schnell von meinen Kindern und küsse Noel zum Abschied, bevor ich an der Menge vorbeigehe und mich auf den Weg zur Bühne mache. Unterwegs betrachte ich die Mienen der Wartenden. Gespannt, ängstlich, erwartungsvoll. Alles ist dabei. Manche wirken, als würden sie sich wirklich freuen. Krank. Doch ich kann daran nichts ändern. An der Bühne angekommen wartet schon Leon auf mich. Seine hellbraunen Haare stehen nicht wie üblich wild von seinem Kopf ab, sondern sind ordentlich glatt gekämmt worden. In seinen Augen steht ein mir wohlbekannter abwesender Ausdruck. „Leon.", sage ich scharf. Das reißt ihn sofort wieder in die Gegenwart. „Ruby. Da bist du ja endlich. Ich habe schon auf dich gewartet.", begrüßt er mich erleichtert. Ich lächle leicht, ich bin zu nervös für mehr. „Habe ich bemerkt.", erwidere ich trocken. Er begleitet mich zu unseren Stühlen. Sofort suche ich automatisch die Menge vor mir nach vier Gesichtern ab und entdecke sie auch nach kurzer Suche. Ethan und Stephen stehen nahe bei einander, was nur möglich ist, weil sie gleich alt sind. Jade und Diamond hingegen wurden getrennt und Amy wirkt etwas verloren unter all diesen 14-jährigen Mädchen. Ich beruhige mich damit, dass sie ja bald wieder bei Noel und ihren Geschwistern ist. „Sie werden schon nicht gezogen." Ich sehe wieder Leon an und schenke ihm ein dankbares Lächeln. Diese ganze Mentorensache wäre noch schlimmer, wenn ich nicht einen guten Freund an meiner Seite hätte und noch einen weiteren, den ich dann im Kapitol treffe. In dem Moment betritt der Bürgermeister die Bühne und sofort kehrt vollkommene Stille ein. Man könnte eine Stecknadel fallen hören, so leise ist es. Wie üblich begrüßt er alle und hält eine zum Sterben langweilige Rede. Ich muss mich manchmal zusammenreißen, um nicht einzunicken. Leon beginnt schon wieder abzudriften und ich trete ihm auf den Fuß, um ihn wieder zurückzuholen. Er lächelt mich entschuldigend an und widmet sich dann mit gespieltem Eifer der Rede des Bürgermeisters. Ich seufze lautlos und zwinge mich ebenfalls zu lauschen. „Und ohne weitere Worte will ich nun die Betreuerin von Distrikt 2 ankündigen. Willkommen, Zoria.", schließt er seine Rede und zieht sich endlich auf seinen Stuhl zurück. Wird aber auch Zeit. Kurz lasse ich meinen Blick über den Platz schweifen. Überall hängen Plakate und Banner, auf welchem in großen Lettern die Zahl 38 abgedruckt ist. Dann betritt unsere Betreuerin die Bühne. Sie trägt ein pinkfarbenes Kleid, das aussieht, als wäre es gerade explodiert. Muss wohl der letzte Schrei im Kapitol sein. Ebenso wie ihre Schminke. Ich habe noch nie jemanden mit so langen Wimpern gesehen, außerdem sieht sie aus, als wäre sie mit dem Gesicht voran in eine Farbpalette gefallen. Ich weiß wirklich nicht, wie irgendjemand das schön finden kann. Dann beginnt sie mit ihrer gekünstelten Stimme zu reden. „Willkommen, Distrikt 2. Willkommen zu den 38. alljährlichen Hungerspielen. Ich bin mir sicher, ihr könnt es kaum erwarten, bis es endlich losgeht, doch hier erstmal ein Film aus dem fernen Kapitol für euch.", trällert sie und tritt dann zurück als der Film abgespielt wird. Dieser Film war schon die ersten paar Male unerträglich, doch mit jedem Jahr will ich ihn weniger ansehen. Denn darin ist von Frieden die Rede. Ha, schöner Frieden, wenn dafür jedes Jahr 23 Kinder sterben müssen, nachdem sie in der Arena durch die Hölle gegangen sind. Auf diesen Frieden kann ich getrost verzichten. Endlich ist der schreckliche Film zu Ende und Zoria betritt erneut die Bühne. Meine Anspannung wächst und ich balle meine Hände zu Fäusten. „Nun denn, wie jedes Jahr, Ladies first.", verkündet Zoria mit einem breiten Grinsen, das wirkt als wäre es in ihr Gesicht zementiert. Dann bewegt sie sich auf die erste Glaskugel zu. Nicht meine Kinder, nicht Jade oder Amy. Alle nur nicht sie. Bitte, oh bitte. Quälend lange lässt Zoria ihre Hand in der Kugel kreisen, ehe sie einen Zettel herauszieht und wieder an das Mikrofon tritt. Dann entfaltet sie das Los und räuspert sich theatralisch. „Und der weibliche Tribut für Distrikt 2 ist...Jade Shine."


Ruby Shine 2 - Die RacheWo Geschichten leben. Entdecke jetzt