Jason
Eigentlich konnte ich froh sein, hier in Monte Bay auf der Straße zu leben. Und nicht in New York oder London. Da, wo es im Winter kalt und regnerisch und windig war. Wo man Angst haben musste nicht nur zu verhungern, sondern auch nur zu erfieren.
Hier konnte ich mich immerhin jeden Tag in dem alten Bahnhof verkriechen und in Ruhe schlafen.
Im Sommer war es sogar meistens zu warm hier drinnen. Trotz der Backsteine. Hier war es zwar immer warm, aber im Sommer besonders.
"Boss!" Wendy E. warf mir eine Schachtel Zigaretten zu, als sie herein spaziert kam. Sie war dünn. So dünn, dass sie nur Hosen mit Gummizug tragen konnte. Wenn sie mal Hosen trug. Sie klaute nämlich für ihr Leben gerne den College Jungs die Boxershorts oder Badehosen und zog sie an. Wie um ihre Beute zur Schau zur Stellen. Und sie war die Einzige, der ich das durchlassen ging. Den Kleineren war es absolut verboten.
"Wurde aber auch Zeit." Ich zündete mir eine Zigarette an und stieß den stinkenden Qualm aus.
Die Sonne schien durch die großen Bahnhofsfenster. Schon lange fehlten die Glasscheiben.
Wendy streckte mir die Zunge raus. "Du solltest dich mal dankbarer zeigen, Boss. Zigaretten wachsen nicht auf Bäumen." Sie ließ sich auf ihr Lager aus Decken und Zeitungen fallen.
"Wofür sollte ich denn bitte dankbar sein?", murrte ich und trat eine leere Coladose von mir. "Dafür, dass wir hier auf der Straße hocken, während jeder andere Penner irgendwann mal arbeiten geht und das große Geld macht."
"Was spricht dagegen, dass wir das große Geld machen?" Teddy kletterte in das Fenster und ließ seine Beine baumeln. Er war jung. 14 Jahre alt. Viel zu jung, um auf der Straße zu leben. Immerhin war er bei uns. Bei mir. Hier war er sicher. Und würde nicht als billiger Arbeiter an irgendeine Farm verkauft werden von irgendeinem Waisenhaus, das sowieso überfüllt war.
"Sieh dich um." Ich stand auf. Breitete die Arme aus.
Shark und Roosevelt schliefen ihren Rausch aus.
Wendy starrte auf das Babybild in ihren Händen. Ihre Mutter hatte ihr ihre Tochter genommen und sie auf die Straße geschmissen. Irgendwann würde sie Lilie zurückholen. Sie liebte ihre Tochter über alles.
Eve und Violet waren irgendwo unterwegs. Wahrscheinlich würde Eve wieder einen seinen merkwürdigen Freunde mitbringen. Und Violet würde nach Gras stinken und wie verrückt lachen.
Teddy legte den Kopf an den kühlen Rahmen. Und musterte mich abwartend.
"Wir sind fucking Straßenkinder, Teddy. Wir haben keine Zukunft."
Wendy schüttelte den Kopf. "Nein. Wir sterben früh. Ohne Hoffnung. Und ohne Beerdigung."
Ich nickte, murrte: "Das hörst du es, Teddy. Finde dich damit ab oder geh.", und verließ das Bahnhofsgebäude. Es lag im Süden der Stadt. Abgelegen. Verlassen. Von Bäumen und Büschen umgeben.
Ich wollte in den Norden. Ins Partyviertel. Ich brauchte Alkohol und Drogen. Und ich wollte jemanden verprügeln.
Teddys Unschuld erinnerte mich an mich selbst. Machte mich wütend. Unglaublich wütend. Vor zwei Jahren. Ich sah mich selbst in ihn. Jeder einzelne Gedanke. Jede Handlung. Jeder unschuldige Blick. Und jetzt war ich ein kiffender Schläger, der stahl und trank.
Eine Menge konnte sich ändern in zwei Jahren.

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Street Kid
Teen FictionJason lebt auf der Straße. Damals floh er vor seinem Freund und seinem alkoholkranken Vater. Jetzt hält er sich mit Drogen, Alkohol und illegalen Boxkämpfen über Wasser. Er ist aggressiv und lässt niemanden an sich heran. Zu oft hat ihm das Leben ge...