死骸 - Leiche

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Leiche - Mit Leichnam werden ausschließlich menschliche Verstorbene bezeichnet, während man unter einer Leiche den toten Körper eines Menschen oder Tieres versteht. Ein Leichnam ist kein taugliches Tatobjekt für einen Diebstahl oder eine Sachbeschädigung. Als Straftat kommt insofern nur die Störung der Totenruhe in Betracht, da die Menschenwürde sich auch im Leben nach dem Tod durchstreckt.

Das Leib eines bislang gesunden Menschen - fremde Kräfte zügelten wohl das arbeitsfähige System, durchbohrten den Schädel mit mehreren Schüssen. Präzise durchquerte die Kugel das Auge-  beide Augen- mit direkter Schussbahn ins Gehirn. Mehrere Messerstiche waren an den Oberarmen zu sehen.

Vor kurzem wurde ein neuer Patient eingeliefert, leblos lag er auf dem Bett - die Ambulanz beförderte ihn hektisch in den nächstbesten OP- Saal. Das Blut lief ihm an Kopf entlang, der Mund überschwemmt mit der roten Flüssigkeit. Würde man es nicht sofort absaugen, würde er nicht nur an Hirnversagen sterben, sondern auch am bloßen Ersticken.
"Was meinst du? Ein erfolgreicher Fall?", fragte Mina mich kritisch musternd. Wir beide lösen heute Abend die zweite Schicht ab und übernehmen den Spätdienst - kein Phänomen, dass zu dieser Zeit eine Notoperation stattfindet. Draußen fing es bereits an dunkel zu werden, die Sonne verabschiedete sich und widmete sich dem schlafen. Das aufmunternde, euphonische Farbbild im Himmel- prachtvoll erblühend in Rottönen, die in ein sanftes orange gleiten - verschwand in einem tristen, düsteren schwarz. "Es ist inadäquat so etwas zu fragen, Mina."

"Hast du dich über Geburt X informiert, wie ist der aktuelle Zustand?" Ihre bedenkliche Mimik verdunkelte sich, der besorgte Ausdruck; die klaren Augen, welche bis eben voller Hoffnung schimmerten - weggefegt vom Sturm, mitgenommen vom Leben. "Es ist gestern verstorben. Geburt Y überlebte für weitere vierundzwanzig Stunden, bis es schließlich auch von uns ging." In diesem Moment konnte ich nur an Samuel Beckett denken; an die Metaphern, die bei diesen Zwillingen ihre Bedeutung erfüllte: "Eines Tages wurden wir geboren, eines Tages sterben wir, am selben Tag, im selben Augenblick [...]"  Und ich hatte mit der "Pinzette" neben dem "Grabgräber" gestanden. Was war das für ein Leben?

"Du denkst, es sei schlecht?", merkte sie an und fuhr mit ihrer Aussage fort, "Die meisten Mütter müssen trotz Totgeburten die Entbindung durchmachen. Kannst du dir das vorstellen? Zumindest hatten diese Jungs eine Chance." Ein Streichholz flackert, leuchtet aber nicht. Die Mutter heulte in Zimmer 478, die sengenden roten Ränder der unteren Augenlider des Vaters, Tränen strichen sein Gesicht - diese Kehrseite der Freude, die unerträgliche, ungerechte, unerwartete Gegenwart des Todes.

Welchen Sinn könnte man sehen, welche Worte waren zum Trost da?

"War es die richtige Wahl, einen Notkaiserschnitt zu verordnen?" "Keine Frage", versicherte sie mir bewusst, "Es war die einzige Möglichkeit, die noch offen stand." Zögert nickte ich, das Umfeld ausgeblendet, fokussiert auf diesen erloschenen Fall: "Was wäre passiert, wenn wir nicht operiert hätten?" Hoffnung - eine zuversichtliche innerliche Ausrichtung, gepaart mit einer positiven Erwartungs­haltung, dass etwas Wünschenswertes eintreten wird, ohne dass wirkliche Gewissheit darüber besteht - hatte sich nach dieser riskanten Operation in mir ausgebreitet, nur schien das Schicksal die Karten wenden zu wollen.
Hoffnung ist die umfassende emotionale und unter Umständen handlungsleitende Ausrichtung des Menschen auf die Zukunft.
"Höchstwahrscheinlich wären sie gestorben. Normale fetale Herzspuren zeigen, wenn das fetale Blut sauer wird; die Schnur wäre irgendwie kompromittiert oder etwas anderes wäre passiert."

"Aber woher weiß man, wann die Spur schlecht genug ist? Was ist schlimmer, zu früh geboren zu werden oder zu lange zu warten, um zu liefern?", brachte ich hervor, bis Mina mich mit ihrem Wort unterbrach. "Gewissensentscheidung."

Was für eine Entscheidung. Hatte ich in meinem Leben jemals eine schwerere Entscheidung getroffen, als zwischen französischem Dip und Süß-Chili zu wählen? Wie könnte ich lernen, solche Gewissensentscheidungen gescheit zu treffen und damit zu leben? Ich hatte immer noch viel praktische Medizin zu lernen, aber genügte das Wissen allein, um Leben und Tod in der Schwebe hängen zu lassen?
Intelligenz war nicht genug; moralische Klarheit ist auch erforderlich. Irgendwie musste ich glauben, ich würde nicht nur Wissen, sondern auch Weisheit gewinnen.

Nicht lange danach endete meine gynäkologische [ongyn - obstetric gynecological] - Rotation und es wurde sofort mit der chirurgischen Onkologie begonnen. Somin, eine Medizinstudentin und ich werden zusammen Stationen wechseln. Ein paar Wochen später, nach einer schlaflosen Nacht, wurde sie beauftragt, bei einer Whipple-Operation zu assistieren - einer komplexen Operation, bei der die meisten Bauchorgane umgelagert werden, um Bauchspeicheldrüsenkrebs zu entfernen- eine Operation, bei der ein Medizinstudent normalerweise stillsteht; im besten Fall bis zu neun Stunden hintereinander. Es wird davon ausgegangen, dass die Operation aufgrund ihrer extremen Komplexität nur mit einer Gruppe von ausgewählten Chirurgen stattfinden kann. Es ist zermürbend, der ultimative Test für die Fähigkeiten eines Allgemeinchirurgen.

Eine Viertelstunde nach Beginn der Operation sah ich Somin auf dem Flur; sie weinte. Der Chirurg fängt damit an, indem er eine kleine Kamera durch einen winzigen Einschnitt steckt, um nach Metastasen zu suchen; da Krebs durch die Verbreitung die Operation schließlich unbrauchbar macht, führt sie zum Abbruch. Somin stand dort und wartete auf eine neunstündige Operation, die sich vor ihr ausbreitete und hatte eine flüsternde Stimme in ihren Kopf: "Ich bin so müde - bitte Gott, lasse dort Metastasen sein." Und dort waren sie.

Die Intention einem Menschen zu schaden, ihn in den Tod gleiten zu lassen, ohne weitere Mühe aufzuopfern; das war es nicht.
Der Patient wurde zusammen genäht, das Verfahren wird abgebrochen. Die Erleichterung füllte ihren Körper; die Angst mitten im Saal durch Schlafmangel einzuknicken fehlte ihr; dann eine nagende, tiefer werdende Schande. Somin brach aus dem OP aus, wo sie verzweifelnd nach einem Kissen zum weinen Ausschau hielt; sie sah mich und ich wurde ihrs.

Es war nicht der Gedanke Unheil anzurichten. Nicht allen Menschen füllt die Existenz das Loch in ihrer Seele, einige geben sich erst zur Ruh, nachdem sie diese von anderen stehlen.

Erst dann ist mir aufgefallen, dass es Menschen gibt, die einen nicht am Leben lassen wollen; die es nicht ertragen können.

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a/n
Oh Hilfe, dieses Kapitel ist in eine ganz andere Richtung gegangen, als es das eigentlich sollte, ups. Hoffentlich ist es nicht schlimm, die Aussage des Kapitels ist immer noch getroffen worden haha

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