Ich wusste in dem Moment nicht so genau, was für Gefühle mir zuerst durch den Körper schossen. Irritation, weil ich einige Augenblicke brauchte, um die Situation zu begreifen? Wut und Frustration, weil ich mich ungerecht behandelt fühlte? Angst, weil ich wusste, dass es keinen guten Eindruck machte, am ersten Tag gleich zu spät zu kommen? Vermutlich war es eine Mixtur aus allem.
„Alles gut bei dir?", fragte da eine hohe Stimme hinter mir, die ich beinahe überhört hätte.
Ich blinzelte die aufkeimenden Tränen weg und drehte mich um. Ein Mädchen saß neben der Plakatwand im Flur auf ihrer ledernen Schultasche. Sie hatte ein Buch in der Hand, das sie zuschlug, als sie bemerkte, dass ich mich ihr zugewandt hatte. Sie schob sich mit einem schüchternen Lächeln die langen, blonden Haare hinters Ohr.
„Ich hab dich gar nicht gesehen", erklärte ich mich schnell.
Das Mädchen richtete ihre braune Ansteckkrawatte, die in Kombination mit der pastellgelben Bluse verdammt schräg ausschaute. Es dauerte etwas, bis sie mir antwortete: „Mich sehen viele nicht."
Sie zuckte mit den Schultern, als wäre dieser Umstand ein unveränderliches Naturgesetz. Eine Tatsache, die selbstredend war.
„Ich bin Moi", sagte sie schließlich und lächelte mich wieder an. Sie sprach so leise, dass ich Mühe hatte, sie zu verstehen.
„Warum redest du so leise?", fragte ich daher. Sie zuckte erneut mit den Schultern.
Ich klatschte unbeholfen in die Hände, um das Schweigen zu übertönen und wandte mich ab. „Na gut. Man sieht sich bestimmt."
Ich lief den leeren Flur entlang und betrachtete dabei die Plakate und Aushängezettel. Von ‚Rettet die Wale' über ‚Werde Schülersprecher' bis hinzu ‚Bibliothekshilfe gesucht' war alles mit dabei. Nach gefühlten Stunden schlenderte ich zurück, kam an Moi vorbei, die immer noch an Ort und Stelle in ihrem Buch blätterte, und erhaschte einen Blick auf ihre Armbanduhr. Großartig! Ganze fünf Minuten hatte ich rumbekommen. Gelangweilt ließ ich mich neben Moi an die Wand plumpsen.
„Warum sitzt du eigentlich hier? Auch zu spät bei dem charmanten Herrn Smith eingetroffen?"
Moi schüttelte lächelnd den Kopf. „Nein, ich hab montags die ersten beiden Stunden regulär frei."
„Warum bist du dann schon jetzt hier? Du könntest doch ausschlafen!", rief ich überrascht. Ich war sogar ein bisschen neidisch auf sie.
„Der Bus fährt aber nicht so, dass ich zur dritten Stunde rechtzeitig ankäme. Es fährt nur einer früh und dann ab mittags wieder. Und fünfzehn Kilometer laufen, möchte ich auch nicht."
„Oh, achso", stammelte ich. Wir schauten uns einige Sekunden an. Offenbar hatte keiner mehr etwas zu sagen.
„Soll...soll ich dir vielleicht das Schulhaus zeigen? Ich meine, dann kennst du dich wenigstens aus. Ich habe nämlich gehört, dass sie hier keine Führung anbieten." Moi lächelte unsicher.
„Klar, gerne", sagte ich und stand auf.
Wir liefen durch die Flure, unsere Schritte verhallten einsam in den menschenleeren Gängen. Moi zeigte mir, wo die Räume auf meinem Stundenplan lagen und erklärte mir zusätzlich, wie das Schulhaus aufgebaut war in der Hoffnung, ich würde das System verstehen und mich dann besser orientieren können. Das klappte aber nur mittelmäßig. Wir kamen auch an der Cafeteria, dem Sekretariat und der Aula vorbei. Moi erzählte mir, vor welchen Lehrern ich mich besser in Acht nehmen sollte und welche eigentlich ganz in Ordnung waren. Wir verstanden uns recht gut.
„Hier ist der Sportplatz mit unserem Basketballfeld", sagte Moi schließlich. „Die Turnhalle steht dort drüben neben dem Rondell."
Sie stieg grazil über eine niedrige Sitzmöglichkeit und setzte ihren Weg über die Weitsprunganlage fort. Ich schaute mich interessiert um.
„Habt ihr auch eine Schulmannschaft im Basketball?"
Moi nickte. In diesem Moment hörten wir beide ein lautes Lärmen, das von einer Handvoll Schüler ausgelöst, die die Treppen zum Sportplatz gerade hinunter rannten. Es waren vier Jungen. Und ein Mädchen, wie ich erst einige Sekunden später feststellte. Sie hatte dunkelbraune Haare, die ihr in Wellen bis knapp oberhalb des Pos reichten. Zwei der vier Jungen kamen mir bekannt vor. Der Eine hatte kurze, blonde Haare, der andere braune. Es waren die beiden, die heute früh auf dem Parkplatz mit dem Auto neben mich gebrettert waren und so laute Musik gehört hatten und nun wie zwei Schmusetiger auf Katzenminze um die brünette Schönheit herumtänzelten.
Der Anblick brachte mich zum Lachen. Die beiden anderen Typen hingegen hielten zielstrebig auf den Basketballplatz zu. Der Eine sah dem hübschen Mädchen wie aus dem Gesicht geschnitten. Er hatte dunkle Haare, die wie Zartbitterschokolade aussahen und im Kontrast dazu ebenfalls auffällig helle Haut, die wie Porzellan wirkte.
„Wer sind die?", fragte ich.
Mois Mundwinkel gingen automatisch nach unten, als wäre verkündet worden, dass es ab heute jeden Tag Spinat mit dem Pulverkartoffelbrei zum Mittag gäbe.
„Ach, die", sagte sie und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die beiden Doof-Tüten – Schrägstrich Witzfiguren – da, die Allison so umgarnen, sind Ole und Leo. Das Mädchen heißt, wie gesagt, Allison. Allison Morister. Und der Typ, der da wie der größte Hahn im Stall vorneweg marschiert ist Alex. Ihr Zwillingsbruder. Die beiden hallten sich für was besseres, bloß weil sie talentierter darin sind..."
Moi unterbrach sich selbst. „Na ja, jedenfalls heißt der Kerl, der da neben Alex läuft, Rick. Der ist eigentlich ganz in Ordnung. Deshalb verstehe ich auch nicht, wie der das mit so ätzenden Menschen tagtäglich aushält. Eigentlich schade. Der ist nämlich ziemlich nett und nicht so...blöde arrogant."
„Oh", kommentierte ich ihre Ausführungen ziemlich geistreich. „Und lass mich raten: Die spielen im Basketballteam, stimmt's?"
„Alex und Rick definitiv. Ole und Leo sind, glaube ich, erst seit dem letzten Schuljahr mit dabei."
Die Jungen fingen an, sich auf dem Sportplatz einzulaufen. Allison setzte sich auf eine Bank neben dem Spielfeld und schaute ihnen dabei zu. Manchmal winkte sie sogar oder feuerte sie an, als wäre bereits ihre Erwärmung die letzte Minute im Finalspiel.
Sie kamen auch an uns vorbei, als sie um die Weitsprunganlage herum liefen. Mir entging dabei nicht, dass Alex mit zusammengekniffenen Augen Moi taxierte.
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Feuertanz [Band 1]
Fantasy"Asche schlug mir ins Gesicht, brannte sich heiß in meine Haut. Dort unten, am Fuße des Vulkans, standen sie sich gegenüber. Dieser Kampf würde hart werden. Ich wollte es mir nicht eingestehen, aber ich hatte Angst. Angst um ihn." Als Zoe von der so...