Kapitel 6 - Dante, der Nicht-Punk

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Ich kam noch gerade rechtzeitig beim Musikraum an. Die Tür wurde gerade geschlossen, als ich die Klinke mit meinen Händen umklammerte, um die Person dahinter daran zu hindern, sie endgültig zu zumachen. Ich trat in den Raum ein, lief an dem verdutzten Mädchen vorbei. Frau Kümmel war anscheinend noch nicht da, denn die Schüler standen noch quatschend in dem Unterrichtsraum verteilt.

Toll! Woher sollte ich nun wissen, welche Plätze noch nicht besetzt waren?

Plötzlich entdeckte ich geradezu einen Platz – ganz vorne in der ersten Reihe, aber nicht direkt beim Lehrerpult –, auf dem noch keine Stifte oder Hefter lagen. Auch kein Rucksack befand sich in der Nähe. Schnell stellte ich meine Tasche auf den Tisch, bevor mir jemand meinen eroberten Platz wegnehmen konnte.

Frau Kümmel betrat den Raum und schon wurde es stiller. Alle suchten ihre Stühle auf. Ein Junge mit bekanntem Gesicht hielt auf mich zu... Alex. Ich war jetzt bestimmt geliefert.

„Du sitzt auf meinem Platz", sagte er. Gegen meine Erwartungen klang es nicht unfreundlich, wie er das aussprach. Es war einfach nur eine Tatsache.

„Entschuldige", murmelte ich. „Das wusste ich nicht."

„Kein Problem. Wie heißt du eigentlich?" Er legte seinen Kopf schief, so dass ihm einige dunkle Strähnen in die blauen Augen fielen.

„Zoe."

„Hör zu, Zoe. Bleib einfach auf dem Platz sitzen. Ist alles in Ordnung. Schönen ersten Schultag wünsche ich dir." Er hob einen Mundwinkel an, wodurch sein Lächeln einen spöttischen Unterton bekam. Ich runzelte die Stirn.

Er drehte sich um und setzte sich neben einen blonden Jungen. Ole. Das Gesicht kannte ich mittlerweile schon ganz gut.

Es dauerte nicht lange, bis ich verstand, dass Alex Geste keine Nettigkeit gewesen war. Im Gegenteil. Hatte ich zu Beginn noch geglaubt, er hätte mir den Platz überlassen, weil er mir damit einen Gefallen tun wollte, wurde ich kaum zwanzig Minuten später eines besseren belehrt. Nicht nur, dass Frau Kümmel ständig spuckte, wenn sie vor uns stand und über irgendwelche Musicals und Opern faselte. Nein. Meine Tischnachbarin war auch noch eine Heidenquasselstrippe. Ich erlitt eine mittelschwere, innere Krise. Und einen Ekelanfall.

Zumindest wusste ich nun, dass Alex im letzten Jahr kurz vor den Sommerferien nach vorne in die erste Reihe zwangsversetzt wurde. Linda erzählte mir das alles in einer Ausführlichkeit, dass ich ihr den Mund kurzzeitig mit meiner Federtasche stopfen wollte. Das kam mir dann aber zu fies vor. Sie war eigentlich ganz nett. Aber, Himmelherrgott nochmal, die quatschte mir echt mein Ohr ab.

Wenig später legte unsere Musiklehrerin schließlich eine CD von Eric Carmen ein, wie sie uns erklärte. Sie forderte uns zum Aufstehen auf und sagte, wir sollten hinten im Raum die letzte Tischreihe wegschieben, damit wir genug Platz hätten.

Wirklich Panik bekam ich erst, als die Melodie von Hungry Eyes durch den Raum schallte und der Begriff ‚Tanzen' fiel. Ach, du scheiße!

„So, heute starten wir mit Rumba – ein Tanz mit ganz weichen Bewegungen. Wir fangen erst einmal mit dem Grundschritt an. Alle bitte in einem Kreis aufstellen." Eins musste man ihr lassen: Ihr Akzent war ganz süß. Wie sie das R rollte, einfach toll.

Sie stellte sich in die Mitte der frei gewordenen Fläche und beobachtete, wie wir uns in einer Reihe um sie herum formierten.

„Nein, Diana. Noch machen wir keinen Paartanz", rief sie. Ein schwarzhaariges Mädchen sah sich erschrocken um und stellte fest, dass sie die einzige war, die sich gerade mit einem Jungen zum Paartanz aufgestellt hatte. Sie nuschelte etwas und zwängte sich nun ebenfalls in die Reihe.

„Wir beginnen mit dem Herrenschritt. Die Mädchen trippeln erst einmal nur zum Rhythmus hin und her, haben also erst einmal Pause. An die Jungen: Achtung, hersehen", sagte sie und fing an, sich zu bewegen. Wir taten es ihr gleich.

„Erst einmal einen Schritt zur Seite, dann nach vorne und wieder nach hinten zurück. Und dann lang zur anderen Seite, um mit dem rechten Fuß zu schließen. Gut macht ihr das. Dann bitte nach hinten und wieder über die Ausgangsposition zur Seite."

Sie zeigte den Jungen die Schritte vor und beobachtete, wie sie es nachahmten. Oder eher versuchten. „Ole, der Hüfteinsatz ist ganz wichtig. Du stehst da wie eine Stabheuschrecke. Los, rück, vor und Seite. Weiter machen, meine Herren. Schön im Rhythmus bleiben. Zwei, drei, vier und Seite, vor, zurück."

Sie klatschte in die Hände, um uns den Rhythmus zu verdeutlichen. „Jetzt die Damen. Der Grundschritt ist gleich, ich hoffe ihr habt aufgepasst. Nur fangt ihr mit dem Grundschritt auf Eins nach links an und geht dann erst zurück. Also: Seite, rück, vor, Seite. Gut macht ihr das. Die Herren bitte im Takt bleiben und die Hüfte nicht vernachlässigen. Sieht toll aus! Weiter so."

Wir übten noch eine Weile, bis sie die Musik mit ihrer Stimme übertönte. „Und jetzt bitte im Paartanz. Bitte findet euch zu zweit an. Die Mädchen erst einmal jeder einen Junge, die restlichen Herren müssen dann untereinander tanzen und immer mal die Rollen wechseln, damit jeder den richtigen Grundschritt mal üben kann."

Es dauerte etwas, bis sich die ersten Pärchen fanden. Die meisten jedoch blieben unschlüssig an Ort und Stelle stehen. Kaum jemand traute sich, eine andere Person anzusprechen.

„Wenn ihr euch nicht selbst findet, teile ich euch ein. Los, Janin, komm mal zu mir." Frau Kümmel nahm ein Mädchen mit kurzen, blonden Haaren und zerschlissener Jeans bei der Hand und sah sich kurz um. Hinten beim Flügel entdeckte sie offenbar einen Jungen, den sie als geeigneten Tanzpartner für Janin empfand.

Sie teilte auch die restlichen Mädchen ein. Dann stieß sie auf mich. „Und du bist?"

„Zoe. Ich bin neu hergezogen."

„Das passt ja", sagte sie lächelnd. Sie führte mich zu einem Kerl mit einer seltsamen Frisur. Die Seiten waren kurz rasiert. Nur die oberen Haare waren ein kleines bisschen länger sowie hoch gegelt. Und sie waren bläulich gefärbt. Er trug komplett schwarze Sachen, die ziemlich dreckig ausschauten.

„Der junge Mann hier ist auch neu. Wie hießt du noch einmal?"

„Dante", sagte er. Seine Augenbrauen waren dicht zusammengezogen, als er mich musterte.

Frau Kümmel drückte mich in seine Richtung und verschwand in Richtung CD-Player, um noch einmal das Anfangslied aufzulegen.

„Bist du ein Punk oder so?", fragte ich, als ich ihm widerwillig meine Hand hin hielt. Er betrachtete sie einige Sekunden unschlüssig, dann griff er seufzend zu.

Er antwortete erst einige Augenblicke später mit einem Nein auf meine Frage. Eine Melodie ertönte im Raum. So kam es, dass Herr Nicht-Punk und ich mehr schlecht als recht zu einem Lied aus Dirty Dancing Rumba tanzten.

Frau Kümmel beäugte die Tanzkünste aller Pärchen kritisch. Bei uns schüttelte sie fassungslos mit dem Kopf, was mich ein wenig peinlich berührte. Selbst diesen Ole hatte sie bloß mit ‚schon ganz gut' kommentiert.

„Dante, du musst deine Partnerin mehr führen und deine Bewegungen müssen...leidenschaftlicher sein. Du musst Spaß haben. Jetzt eben saht ihr beide beim Tanzen aus wie zwei Wochen alte Fischsuppe."

Feuertanz [Band 1]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt