Nach dem Aufruhr in Fais Wohnung hatten sich die Drei für eine Weile voneinander distanziert und keine Missionen ausgeführt. Jean war Fais Verhalten ein absolutes Rätsel gewesen. Er war nicht dabei gewesen, als die Situation so eskaliert war, aber sogar Felicias Beschreibung des Ereignisses gab keinen vernünftigen Hinweis darauf, wieso sie aus der Wohnung geworfen wurden. Allzu lange grübelte er darüber nicht, denn Fais Gedankengänge interessierten ihn nicht genug, um sich selbst deswegen herunterziehen zu lassen. Seine Devise lautete abwarten und hoffen, dass sich der ehemalige Priester möglichst bald wieder besann.
Seine passive Haltung war die richtige Entscheidung gewesen. Zwei Wochen später hatte sich Fai für seinen ungehaltenen Ausbruch entschuldigt, jedoch behielt er nähere Details für sich. Felicia und Jean hatten sich darauf geeinigt, nicht weiter nachzufragen, um die Sache erst einmal zu vergessen und ihn nicht zu belästigen. Eines hatten sie in ihrer gemeinsamen Zeit gelernt: Fai war eine ziemlich sensible Person, die in mancher Hinsicht mit Samthandschuhen angefasst werden musste.
Wenigstens hatte er ihnen von sich aus sein Verhältnis zu Eve erläutert. Jean hatte sich schon die gesamten zwei Wochen gefragt, wie sie zueinander standen. Seine erste, alberne Idee war, dass sie seine Tochter war, doch dann hätte Fai schon mit zehn Jahren Vater geworden sein müssen. Unmöglich war es nicht, aber er schätzte Fai nicht als jemanden ein, der zu so etwas imstande war, zumal er als Jugendlicher in der Kirche tätig gewesen war und seine Eltern streng gläubig waren. In Wahrheit hatte Fai sie vor vier Jahren auf der Straße aufgelesen. Ohne Familie und Bleibe wusste sie nicht, wohin sie gehen sollte. Daraufhin hatte er sich kurzerhand entschieden, sie bei sich aufzunehmen, und seitdem lebten sie zu zweit in der Wohnung.
Wenngleich Jean den Weißhaarigen oftmals kritisierte, so musste er ihn dafür respektieren. Nur wenige Menschen kümmerte das Schicksal von Straßenkindern längerfristig. Eine einmalige Mahlzeit schenkten ihnen manche noch, aber danach hörte es meist schon auf. Wie die Zukunft der Kinder aussah, war ihnen letztendlich egal. Im Gegensatz dazu spendete Fai regelmäßig Geld an eine Hilfsorganisation und hatte sogar ein Kind bei sich aufgenommen. Solch eine selbstlose Aktion hätte er ihm vorher nie zugetraut, aber anscheinend gab es vieles, das er noch nicht über ihn wusste.
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Es war nichts Ungewöhnliches für Fai von Herr Chevalier gerufen zu werden, doch an diesem Tag fühlte er sich ruhelos, als er vor seiner Bürotür zum Stehen kam und zum Klopfen ansetzte. Zwei Wochen lang hatte er seine Arbeit in der Sekte vernachlässigt, nur weil ihn Felicia kurz aus der Fassung gebracht hatte. Lächerlich. Fai wollte als kein Mann gelten, der sein Arbeitsleben mit seinem Privatleben vermischte. Unprofessionalität konnte er am allerwenigsten leiden und nun galt er als Vorzeigebeispiel für eben genau diese. Der Scham stieg stetig weiter in ihm auf, während er sich diesem Umstand bewusst wurde. Heute morgen beim Zurechtmachen hatte er es nicht einmal ertragen können, sich länger als fünf Sekunden im Spiegel zu betrachten. Peritha hatte ihm zwar stets zugesichert, dass ihm niemand böse sein würde für diese kurze Auszeit, aber mit dieser Aussage machte sie sich ohnehin gleich zur Lügnerin. Selbst wenn es niemanden in der Sekte gab, der ihm Vorwürfe machte, kritisierte er sich selbst genug.
"Komm rein, Fai!", wurde er nach zwei Minuten endlich herein gebeten. Fast hatte er gedacht, dass Herr Chevalier den Termin vergessen hatte oder ihn absichtlich so lange vor der Tür verharren ließ, damit er noch Zeit zum Reflektieren hatte. Beschweren durfte er sich jedoch nicht. Schließlich hatte er ihn ganze zwei Wochen im Stich gelassen.
"Guten Morgen, Herr Chevalier...", begrüßte Fai ihm nach dem Eintreten. In seinem Gesicht machte sich Nervosität breit, die seinen Schuldgefühlen zuzuschreiben war. Aber noch etwas anderes beunruhigte ihn auf einmal. Der sonst so gut gelaunte Herr Chevalier trug eine versteinerte Miene, die kein Lächeln durchscheinen ließ. Natürlich nicht. Niemand würde jemanden freudestrahlend in Empfang nehmen, der ohne Ankündigung von der Arbeit fernblieb.
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Vertrag mit der Anderswelt: Sekte
ParanormalneVor 100 Jahren wurde die Welt Zaphylis von sogenannten "Crepus" heimgesucht. Was sich hinter ihnen verbirgt, ist bis heute nicht bekannt. Einige beten sie wie Götter an, andere sehen in ihnen Dämonen, die Unheil über die Welt bringen. Einzig darin s...