Kapitel 4

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Irgendetwas ging hier vor sich, dass sich meiner rationalen Auffassungsgabe und Wissensstand entzog. Doch war für mich klar, dass ich dem auf den Grund gehen musste. Ich überstieg die verteilten Habseligkeiten und kam bei Professor Cunninghams Zimmertür an. Er hatte sich die Mühe gemacht und sie verschlossen, obwohl er in eile war. Was versteckt sich dahinter? Und wohin führt diese Falltür, von der ich nie etwas gehört hatte. Es gab keine Baracken, die unterkellert waren. Es sind lediglich einfache Holzhütten, damit Arrenville die vielen Arbeiter beherbergen kann.

Da die Tür aus der oberen Angel herausgebrochen war und dort schief abstand, war es mir möglich, die Tür leicht anzuheben und sie aus dem anderen Scharnier zu schieben. Nun war sie nur noch durch den Schließbolzen mit der Zarge verbunden und ich zog die Tür entgegen der Schwingrichtung auf. Der Raum war klein und spiegelte mein Zimmer wieder. Eine kleine Kommode stand neben dem Bett und ein verschlossenes Fenster befand sich dort drüber. Nur eine Klappe, von etwa einem Schritt Maßlänge, unterschied die beiden Räume. Die Falltür stand offen und zeigte eine kleine Leiter, die durch einen Schacht in einen Keller führte.

Der Raum war klein und schien von Hand in den Boden gehauen zu sein. Unförmige Wände formten einen annähernd viereckigen Raum. Am Rand stand ein Tisch, auf dem seltsame Glasgefäße aufgebaut waren. Röhren führten von wissenschaftlichen Apparaturen in bauchige Glasbehälter. Blubbernd und siechend sickerte eine teerartige Masse darin umher.

Direkt daneben stapelten sich Bücher und Notizen. Einige lagen neben den Gefäßen auf dem Tisch und andere türmten sich vom Boden aus, in fast dieselbe Höhe. Ein kleiner ramponierter Nachtschrank bot eine weitere Ablage, auf dem nur ein einziges Buch lag. Es war geschlossen, doch ragten mehrere Zettel aus dem Buch, welche an verschiedenen Stellen hereingesteckt waren. Der Einband selbst trug keinen Titel. Und ich wusste auch nicht, welcher Titel so ein groteskes Äußeres Schmücken könnte. Eine schuppige fischartige Oberfläche überzog das Werk und als ich es vorsichtig aufschlug, stieß mir ein salziges Aroma entgegen. Das Papier schien aus normalen, wenn auch uralten Pergament zu bestehen und direkt auf dem ersten Blatt erfuhr ich auch den Titel: „Naenia de tenebris creaturae".

Ziellos schlug ich die nächsten Seiten auf und bemerkte schnell, dass das gesamte Buch in der alten Sprache verfasst worden war. Die kantigen Schriftzeichen der längst ausgestorbenen Sprache, reihten sich unentschlüsselbar hintereinander. Selbst die gelehrtesten Sprachwissenschaftler haben es nie geschafft, diese Schriften zu entschlüsseln. Womöglich auch, weil es so wenige davon gab. Doch hier lag eines.

Dann schlug ich eine der Seiten auf, in denen einer der Zettel steckte und die Handschrift des Professors offenbarte folgendes: „Es sind die Gesteine, die die Kraft geben. Sie sind das beständigste Element und Mittelpunkt dieser Praktiken. Durch Stein und Sand, Salz und Kalk, vermag ein so mancher Eingeweihter, eine Form zu erschaffen, die durch ihre Feinheiten nahezu echt wirkt. Doch verschafft man sich die richtigen Ressourcen und fügt diese bei der genauen Karatzahl zueinander, so ist es nahezu möglich, alles zu erschaffen. Hierbei gilt, so größer die Figur, desto härter muss der Kern sein. Der Kern, welches als Herz zu betrachten ist, muss aus einem einzigen Material bestehen und von mächtigerer elementarer Kraft durchzogen sein, als der restliche Rohstoff."

Ohne zu verstehen, was diese Notizen zu bedeuten hatten, blätterte ich weiter, bis zur nächsten Kritzelei des Professors. Ob dies seine persönlichen Gedanken zu etwas waren oder ob es tatsächlich Übersetzung aus diesem Werk waren, wusste ich nicht. Das folgende entsetzte mich jedoch zu tiefst und als ich es gelesen hatte, schlug ich das Buch sofort zu.

„Das Erschaffen einer Figur erfordert die nötigen Ressourcen in Ergänzung mit alchimistischen Fertigkeiten. Doch wenn es an die Erweckung dieser geht, wird ein okkultes Studium vorausgesetzt. Die geformte Gestalt wird beschworen, wenn der Stern des achten Wesens am Firmament prangt. Ein einziger Hauch des Meisters, löst den entscheidenden Moment aus und entfesselt den Golem."

Was führte dieser Cunningham nur im Schilde? War er so verdorben, wie es die Gerüchte um seine Familie vermuten ließen? Oder warum hatte sich sonst dieser Professor einen geheimen Keller eingerichtet, in dem er nebulöse Nachforschungen nach ging, wenn nicht sogar praktizierte. Rührten hier die Geräusche her, die ich so oft des nächtens unter dem Haus vernommen habe? War dies der Ursprung all dieser Mysterien? Ich legte das Buch angewidert weg und schaute mich weiter im Raum um.

Der Rest war schnell erläutert. Karger Boden, auf dem schmutzige Spuren zu sehen waren, als hätte jemand Sand und Kohle verschüttet und wäre dann immer wieder darüber gelaufen. Ein Regal, welches gegenüber der alchemistischen Apparaturen aufgebaut war, schien demoliert. Alle Regalbretter waren herausgebrochen und sammelten sich zwischen Steinen jeglicher Art auf der untersten Ablage. Erze von verschiedenen Metallen fielen mir sofort auf, da es auch solche waren, welche ich in der Schmiede verarbeitete. Ich bückte mich gerade nach einem besonders großen Stück Roheisen, da hörte ich plötzlich das Knarren der Leitersprosse.

Entschlossen Professor Gerald Cunningham zur Rede zu stellen, erhob ich mich erst und drehte mich dann um. Ich stand einer männlichen Gestalt gegenüber, die hünenhaft groß war, jedoch klein genug um nicht gänzlich unmenschlich zu wirken. Die Haut war glatt geformt und hatte eine gelblichen Tönung, wirkte allerdings nur entfernt befremdlich. Grobe Kleidung fiel sackförmig an dem muskulösen Körper herab. Alles wirkte zugleich menschlich wie unecht. Am erschreckendsten waren jedoch die jadegrünen Augen, die mich starr fixierten. Dann schlug er zu und ich verlor das Bewusstsein.

Der Golem von ArrenvilleWo Geschichten leben. Entdecke jetzt