Dienstag, 23:56 Uhr

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Maurice

Maurice war in der Nacht auf den Mittwoch nicht ohne Grund durch sein Fenster nach draußen gestiegen. Er hatte den ganzen Nachmittag gewartet, die Stunden ungeduldig heruntergezählt. Er hat gewartet, bis die alte, schwach leuchtende Lampe im Schlafzimmer seiner Eltern endlich ausgegangen war. Er hat gewartet, bis alles in dem sonst so belebten Haus verstummt war und dann noch ein bisschen länger. Patrick meinte einst, dass es dumm von ihm war sich so zu verhalten. Er war schließlich 23 und somit mehr als alt genug um selbstständig zu entscheiden, wann er das traute Heim verlassen wollte. Doch war es ihm schlichtweg zu unangenehm in das typische Verhör seiner Eltern zu geraten. Es war die reinste Qual. Er, wie er versuchte sich im Schützengraben vor den Fragen zu retten, welche wie Granaten links und rechts neben ihm einschlugen. Seine Mutter bewies sich hierbei als verbitterte Staatsfeindin Nummer eins. Anfangs empfand der junge Mann es noch als äußerst liebevolle Geste ausgefragt zu werden, schließlich hatte er ihr als kleiner Bursche schon alles anvertraut. Doch mit der Zeit waren die Fragen komischer und schlüpfriger Geworden. Das letzte mal hatte Sie etliche Geschlechtskrankheiten erwähnt, welche er bei einmaligem sexuellem Verkehr ohne Verhütungsmittel einfangen könnte. Das konnte und wollte er nicht noch einmal erleben.

Leise schlug er das alte Fenster hinter sich zu. Die weiße Farbe des Rahmens blätterte unter seinen Fingerkuppen ab und fing sich in seinem neuen Pullover wieder. Das erste Mal in seinem Leben war er tatsächlich froh nicht mitten im Dorf zu wohnen. Die Chance, dass jemand hier vorbeigehen würde und das leicht offene Fenster erblicken würde erstreckte sich gegen Null. Das Tau überzogene Gras federte seinen Sprung aus dem ersten Stock. Mehr oder weniger. Er verspürte einen leichten Druck, welcher auf seine Kniegelenke ausgeübt wurde. Natürlich hätte er seinen Abstieg einfacher gestalten können. Er hätte über das Dach der Garage zur großen Eiche im Garten rutschen können. Doch wollte Maurice keine Zeit vergeuden. Schließlich ging es um ihn, um Patrick. Vermutlich wartete er schon auf ihn. Der Brünette und der Blondschopf waren Jahre lang zusammen gewesen, ehe ihre Beziehung kühl geworden und wie die Titanic am Eisberg zu Grunde gegangen war. Kontakt hatten sie seit ihrer Trennung keinen mehr gehabt. Bis heute.

Die Nachricht war während dem Mittagessen auf seinem Handy aufgeleuchtet. „Maurice, weg mit dem Handy", hatte sein Vater ihm ruhig vermittelt. Er war kein Freund der Technik, besonders nicht während den Mahlzeiten. „Der Esstisch ist für die Familie da. Das ist die einzige Zeit am Tag, in welcher wir alle zusammen sind", meinte er einst, als sein kleiner Bruder unter der glänzenden Tischplatte die Tasten seines Gameboys betätigt hatte. Er hatte versucht ein wildes Pokémon einzufangen. Erfolglos, wie sich schon einige Minuten später herausgestellte. Viel zu stark schlug in diesem Moment sein armes Herz, als das er dem Wunsch seines Vaters nachgehen konnte. „Patrick" war alles, dass seine Stimmbänder ihm erlaubten. Sofort war es still geworden. Nicht mal seine jüngeren Geschwister, welche sonst immer einen Spruch parat hatten, sagten etwas. Sie hatten mitbekommen, wie schlecht es ihrem Bruder nach der Trennung gegangen war. Mit einem verständnisvollem nicken seines Vaters, sowie einer einfachen Handbewegung seiner Mutter hatten sie ihrem ältesten Sohn gestattet den Esstisch zu verlassen. Er war vielleicht schon erwachsen, doch Maurice wusste, wie er sich zu verhalten hatte. Er musste keine Miete zahlen, sich nicht um seinen Strom- und Wasserverbrauch kümmern, solang er sich respektvoll verhielt und seine Aufgaben sorgfältig erledigte. Staubsaugen, Wäsche waschen, ab und zu den Müll raus - in die dafür vorgesehenen Tonnen - schmeißen und am Wochenende in dem kleinen Autokino bei der Ticketausgabe helfen.

Mit zittrigen Händen öffnete der Blonde das Gartentor, welches sich hinter dem Haus – und somit hinter dem Zimmer seiner bereits schlafenden Eltern – befand. Ihr Fenster gewährte einen Blick auf die selten befahrene Straße. Diese war bereits alt und kaputt. Schlagloch an Schlagloch. Wenn der Sommerregen einsetzte wurde es noch unangenehmer. Im Winter kam es schon des Öfteren vor, dass nicht mal der Winterdienst sie von den Schneemassen befreite.

Warum hatte er nur keine Jacke angezogen? Der Wind pfiff ihm auf dem Weg in das Zentrum des Dorfs immer stärker um die Ohren. Das „Zentrum" war eine kleine Parkanlage, welche sich nur ein paar Meter neben der Kirche befand. Anscheinend war ihr Dorf einst von vielen Mönchen errichtet worden, der Park ein Garten der Ruhe und Besinnung. Ob das jedoch der Wahrheit entsprach bezweifelte er. Vermutlich hatte man einfach zu viel Geld und wollte es nicht für die Reparatur der Straßen ausgeben oder was auch immer. Schlussendlich war es egal. Was zählte war die Person, welche Maurice in nur ein paar Minuten wieder treffen würde.

Er spürte seinen Herzschlag in der Kehle, seine Atmung wurde unruhiger. Nervosität zog sich von seinem kleinen Zeh, bis in die letzte Haarsträhne. Seine Nackenhaare stellten sich auf, ihm wurde mit jedem Schritt unwohler. Als wäre er der böse Wolf aus dem Märchen mit den sieben Geißlein. Als hätte man seinen Bauch mit Steinen gefüllt. Er konnte schon das Tor erkennen.

Verfluchtes Universum - ZomdadoWo Geschichten leben. Entdecke jetzt