An diesem Tag, da tanzte Amalia durch die ganze Hütte und begutachtete noch so jede kleine Ecke. Selma war das ein bisschen unangenehm, denn sie hatte keine Ahnung, was sie alles finden könnte.
Allgemein, jedem wäre es unangenehm, wenn eine Person ganz offen die Privateigentümer durchwühlte.
Der Regen peitschte wieder gegen die Fenster und ließ die zwei Mädchen in ihrer Hütte verrotten. Selma trank Tasse um Tasse Tee und las ihre Lieblingslektüre und Amalia war nun einmal Amalia.
Sprang von Zimmer zu Zimmer, mit einem Lächeln im Gesicht und immer auf der Suche nach Ungewöhnlichkeiten.
Es war ungewohnt. Normalerweise tanzte keiner durch Selmas Hütte und normalerweise summte dabei keiner ihr fremde Lieder, doch genau das passierte in diesem Moment.
Und Selma gefiel es sogar ein bisschen.
Sie sprachen nicht viel, lächelten sich manchmal an und ohne viele Worte bereiteten sie sich gegenseitig immer wieder einen Tee zu oder aßen Aufbackbrötchen mit Aufstrich.
Ihr gefiel dieses System. Ohne viele Worte sich zu verständigen. Dieses Mädchen verstand sie sogar, ohne einen Laut von sich zu geben. Die meisten Menschen verstanden Selma noch nicht einmal, wenn sie redete, doch Amalia sprach ihre Sprache.
Die, der Denker.
Und ja, Amalia und Selma waren Denker. Zwei komplett unterschiedliche Menschen, jedoch verbanden sie die Worte der allzu seltenen Denker.
Über den Buchrand hinweg beobachtete Selma das rothaarige Geschöpf. Sie schwebte über den Boden, man hörte kaum einen Schritt. Einzig ihr leises Kichern drang durch den Raum.
Selma konnte nur faszinierend die Tänzerin betrachten. Zu anderem war sie in diesem Augenblick nicht mehr fähig.
Ja, Amalia war eine Tänzerin. Jede Bewegung sah anders aus. Jede Bewegung ihrerseits sah überwältigend zart aus. So federleicht.
Amalia war eine Tänzerin, denn sie ging nicht nur schmerzerleidend durch das Leben, sondern balancierte sich geschickt hindurch. Immer mit einem Lächeln auf ihrem kunstvollen Gesicht.
"Amalia?"
Die Angesprochene stoppte in ihrer Bewegung, das nächste Regal in der Küche zu öffnen und musterte Selma fragend, welche ihr Buch weggelegt hatte und nun nach Worten suchte.
"Willst du dich von mir zeichnen lassen?"
Sekunden, vielleicht sogar Minuten, war es ruhig. Nicht nur dieses mondiale ruhig, sondern todesstille.
Der Regen scheint aufgehört zu haben und der Wald hielt die Luft an.
"Gerne." Einander begutachteten sie sich lächelnd und Selma leitete ihr nun neues Projekt in ihr Zimmer.
Amalia setzte sich wartend auf die Matratze, während die Dunkelhaarige eine freie Leinwand suchte, sowie die für sie passende Farbwahl.
Sie wollte so detailgetreu wie möglich vorgehen. Die Künstlerin musterte das wartende Mädchen eingehend.
Ja, Selma war eine Künstlerin. Mit Adleraugen studierte sie schon seit erster Stunde auf der Welt ihre Umgebung. Nahm alles wahr und ließ ihre Fantasie die langweiligen und ernsten Landschaften verschönern.
Selma war eine Künstlerin, denn sie gab sich nicht nur mit dem Offensichtlichem im Leben ab, sondern wollte so viel mehr, als nur das ihr Sichtbare.
Schnurstraks platzierte sie die Leinwand drei Meter vor dem Bett und drückte paar Farbpfützen auf einem Brett aus. Mit dem Pinsel hinter dem Ohr betrachtete Selma prüfend das Szenario vor ihr.
Ein eingeschüchtertes Mädchen sank in die weiche Matratze ein. So würde das nichts werden. Sie zog Amalia ein bisschen nach oben und streckte ihre Schultern, zog den zu großen Pullover über die Schulter, sodass eine frei lag, wuschelte durch die hinter die Ohren geklemmten Haare und zog ihre Mundwinkel minimal nach oben.
"Lege deine Beine auf das Bett und stütze dich ab. Du bist wunderschön, trau dich." Aufmunternd schmunzelte Selma die nun selbstbewusstere Frau an und illustrierte Strich für Strich die erkennbare Einzigartigkeit Amalias.
Sie versank in ihre Arbeit und gab sich ihr komplett hin. So frei hatte sie sich schon seit einer Unendlichkeit nicht mehr gefühlt.
Orangene und rote Akzente pinselten sich beinahe eigenständig auf die nun nicht mehr weiße Fläche.
Irgendwann, nach unabsehbarer Zeit, fing Amalia in ihrer erstarrten Position an zu reden. "Du findest mich hübsch?"
Selma spürte den neugierigen Blick auf ihr, während sie konzentriert die kleinen Sommersprossen auf der Schulter ansetzte.
"Natürlich. Du bist sehr, sehr hübsch. Ich weiß das, ich habe ein Künstlerauge." Sie zwinkerte Amalia verschmitzt zu.
Die Augen waren das wichtigste Merkmal des Werkes. Sie sollten absolut vollkommen werden.
"Du weißt, dass das Bild nicht perfekt werden muss?"
Einen Moment sah sie auf und bemerkte, wie skeptisch sie angeschaut wurde.
Selma murrte nur unverständliche Laute.
"Kein Mensch ist perfekt, wenn es nicht am Aussehen mangelt, so ganz sicher an der Persönlichkeit. Und von außen ist auch keiner perfekt, weil wir alle was anderes sehen und anderes fühlen. Die Welt mag vielleicht gleich sein, jedoch nimmt sie jeder anders wahr. Deshalb kann kein Mensch perfekt sein."
Selma legte den Pinsel weg und starrte die junge Frau nachdenklich an. Und tatsächlich, Amalia hatte recht. Egal, wie perfekt eine Person zu sein vermochte, so war sie nicht vollkommen. Makellos. Das wäre nicht menschlich.
Ein Mensch musste Makel haben und Fehler. Und diese hatte er auch. Jede Person auf diesem Planeten hatte Schwächen, Fehler, Missgeschicke, Peinlichkeiten und so vieles mehr mit sich zu tragen. Und das machte unsere Spezies aus. Dieses unperfekte perfekt.
Dieses Paradoxon, trotz unserer Zielstrebigkeit, perfekt sein zu wollen, machte uns aus. Doch was uns auszeichnete war die Imperfektion dahinter.
Das Ziel perfekt zu sein, verlieh uns eine Willensstärke, welche uns so weit brachte, doch dieses Ziel könnte man nie erreichen, denn das war der Hacken, der Schummler im Spiel.
Das Ziel war unerreichbar.
Und so weilten wir auf dieser Kugel und hofften auf Perfektion. Perfektion, welche im Auge des Betrachters lag.
"Du hast recht, doch du hast auch Unrecht, denn Perfektion kann nur von einem selber für einen selber auserwählt werden und du bist für mich die unperfekte Perfektion."
Selma war fertig. Der letzte Zug wurde niedergeschrieben auf der weißen Fläche. Die letzte Melodie gespielt. Das Orchester verklungen. Die Geschichte mit einer neuen Weisheit beendet.
Das Bild war so perfekt. Detailgetreu und lebhaft. Amalia erhob sich aus dem Bett und schlenderte rüber zu Selma.
"Ich habe das gemalt. Und es ist schön. Sehr, sehr schön."
Die Porträtierte legte ihre Hand auf die Schulter der Künstlerin.
Sie hauchte isländische Worte und Selma legte ihre Hand auf die ihre.
"Selma?"
"Ja, Amalia?"
"Dann bist du meine perfekte Imperfektion."
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Antonym - Die Philosophie der Gegensätzlichkeit {✓}
Teen FictionWir Menschen haben eine bestimmte Abfolge, ein bestimmtes System in unser Leben gemeißelt, welches von Geburt an eingebrannt wird in jedes Kindes Gehirn. So wie auch Gegensätze. Es ist ein ausgeklügeltes Prinzip, welches man nicht hinterfragen soll...