Es war der Morgen, nachdem Selma die rothaarige Schöne zeichnete. Der Regen hatte in der Nacht endlich Ruhe gegeben und die Vögel nahmen nun wieder das Publikum für sich ein mit ihrem Gesang. Die Hütte musste wieder auf Vordermann gebracht werden, weswegen die zwei Mädchen tüchtig mit den Besen und Tüchern herum wedelten.
"Möchtest du mir heute den Wald zeigen, Selma?" Verwirrt sah sie Amalia an. "Was könnte ich dir denn dort zeigen?" Mit den Händen in den Hüften betrachtete Selma ihre fleißige Mitbewohnerin. Diese lächelte sie wissend an. "Zum Beispiel den Platz, den du gestern aufsuchstest in der Früh."
Überrascht schaute sie Amalia nach, welche sich nun ihre Kleiderkiste vornahm. Sollte sie? Bis jetzt wusste keiner von diesem Ort, nur sie und der alte Mann 50 Meter über ihr. Doch...was fragte sie sich das überhaupt noch? Egal, ob sich Selma jetzt noch dagegen wehren würde, irgendwann hätte sie Amalia alles von den Lippen abgelesen was sie wollte. Das war ihr klar, bevor sie sich damit auch nur ansatzweise zufriedengab.
"Na schön Amalia, ich zeige dir den Ort."
Verwunderlich erweise war diese kaum überrumpelt von Selmas plötzlicher Entschlossenheit.
Die zwei Frauen räumten weiter die kleine Hütte blitzblank auf und als das Werk vollrichtet war, warf sich die erschöpfte Selma müde in den Sessel.
Ihre kleine Behausung sah wie neu aus, als wäre sie gerade erst mit ihrer damals kindlichen Freude eingezogen.
Amalia war kaum ausgelaugt. Nach einer kurzen Ruhepause sprang sie vom Sofa und ging in die Küche. Sie brachte ihnen jeweils ein Glas mit kühlem Wasser enthalten und Selma trank es auf Ex aus.
"So, wann willst du mir den Ort zeigen?" Mit arglosen Augen sah sie die Dunkelhaarige fragend an und bei diesem Anblick, dachte Selma an ein kleines, aufgewecktes Mädchen.
Die Künstlerin mochte gerne Kinder. Ja, sogar sehr gerne. Früher, als sie noch unter Menschen lebte, da war ihr Traum Lehrerin zu werden. Sie träumte von dem perfekten Studium als Grundschullehrerin und machte Praktika ohne Ende an Kindergärten und kleinen Schulen.
Manchmal dachte sie, Kinder wären die einzigen menschlichen Lebewesen, welche sie nur ansatzweise verstanden. Welche mit ihrer naiven und unschuldigen Art alles Böse aus der Welt tanzen konnten.
Amalia war eines dieser Kinder von denen Selma überzeugt war, dass sie alles Schlechte weglachen vermochten.
Die Rothaarige war der festen Überzeugung, dass man an dem geheimen Ort, ein Picknick problemlos halten könne und packte zügig Brot, Aufstrich, Käse und Wurst, sowie Obst und kleingehacktes Gemüse in einen gestrickten Korb.
Die dicke Winterdecke fand Platz über Selmas Schulter ausgebreitet.
Mit Amalia kam man gut voran und sie trödelte nicht viel herum, was Selma so einiges an Zeitverschwendung ersparte.
Als sie fast da waren, richtete die Führerin ihren Finger geradeaus und erklärte, dass sie gleich da sein würden.
Ein Quicken ertönte und schon flitzte ein Rotschopf an Selma vorbei. Überrascht lachte sie auf und folgte zügig der freudigen Person.
Als sie ebenfalls ankam, sah sie Amalia vor dem See stehen und ihn bestaunend betrachten. "Er ist so voller Magie...Selma that's magnifistique!"
Die Angesprochene nickte zustimmend und horchte auf, als ein Vogel über ihre Köpfe vorbei zwitscherte. Eine einzigartige Melodie drang an ihre Ohren und genießend schloss die ruhige Frau die Augen. Ganz klar, eine Amsel.
"Welcher Vogel war das?" Erwartungsvoll, mit riesigen Augen, beäugte Amalia die erfreute Dunkelhaarige. "Eine Amsel."
Sie ging ein Stückchen um den See herum und sogleich folgte ihr ihre Freundin. "Woher weißt du das?"
Sie erkundete die Bäume, um nach der Amsel Ausschau zu halten. Es war nämlich früher Frühling und eigentlich sollten die Zugvögel erst in ein paar Wochen erscheinen. War diese hiergeblieben? Den ganzen Winter?
"Am Gesang. Er ist der Schönste." Sie lief um die Bäume herum und hielt verzweifelt Ausschau nach dem mysteriösen, kleinen Vogel.
"Ich dachte das war...ehmm...die Nachtvogel?" Selma kicherte leise und drehte sich zu der Unwissenden um. "Du meinst die Nachtigall."
Diese nickte ihr zustimmend. "Sagte ich doch." Beleidigt verschränkte sie die Arme. Kritisch suchte Selma weiter die Bäume ab.
"Nun, ich würde sagen, Gesang liegt im Ohr des Horchers."
"Des Horchers?" Stimmt ja, Amalia konnte gar kein Deutsch. Zu mindestens nicht in diesem Ausmaß.
"Das Publikum. Der Zuhörer." Der Isländerin entwich ein wissender Laut und sie trat nun näher zu Selma. "Was suchst du?"
"Den Vogel." Amalia sah sich einmal demonstrativ um. "Wieso?"
Die Sucherin setzte sich ergebend auf einen Baumstumpf. "Eigentlich sollte er erst in einigen Wochen aus den wärmeren Ländern kommen."
Eine helle Augenbraue schoss nach oben. "Und deshalb suchst du das Amsel verzweifelt?"
Verwirrt betrachtete sie das Mädchen vor sich. Eigentlich ja die Amsel.
"Ja natürlich."
Amalia lachte erheitert. "Vielleicht ist er einer der gerne gegen den Strom schwimmt."
Noch immer verständnislos blickte sie hoch zu der anscheinend mehr wissenden von den Zweien.
"Möchtest du denn gerne gefunden werden?" Diese Frage ließ sie kurz stutzen. Natürlich nicht. Sie schmachtete nach keiner Menschenseele, nach keinen beglückten Gesprächen, gar nach der hoffnungslosen Liebe. Sie gierte nicht nach diesen Dingen.
Einzig allein die Einsamkeit war die, welche sie so sehr erträumte und ereiferte. Alles in ihrem Leben drehte sich nach diesem Punkt der Einsamkeit.
"Nein. Möchte ich nicht." Sie stand auf und ging den Weg zurück zu dem Picknickkorb und der Decke.
Hinter ihr vernahm sie Schritte. "Das war sonnenklar, denn du schwimmst auch gegen den Strom."
Sie stoppte in ihrer Bewegung, hielt den Atem an und knickte unmerklich ein. Dieser Satz. Dieser Satz, welcher für so viele Individualität bedeutete, war für sie ein Gräuel.
Ein so leichtsinnig genutzter Satz, der ihr Leben in die absolute Isolation zerrte, ohne Hoffnung auf Rückkehr.
Selma marschierte weiter durch das Dickicht, von weitem sah sie die zurückgelassenen Sachen.
Die zwei Mädchen setzten sich geräuschlos gegenüber auf die ausgebreitete Decke und nahmen Stückchenweise die mitgenommenen Sachen zu sich.
Es war ein in Schweigen gehülltes Mahl, welcher nur von leichten Luftbewegungen und Vogelzwitschern unterbrochen wurde. Das Wasser gab keinen Mucks von sich. Verschwiegen, als hüte es ein peinigendes Geheimnis. Umhüllt von einer resilienten Mauer.
Die Amsel kam nicht mehr zurück.
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Antonym - Die Philosophie der Gegensätzlichkeit {✓}
أدب المراهقينWir Menschen haben eine bestimmte Abfolge, ein bestimmtes System in unser Leben gemeißelt, welches von Geburt an eingebrannt wird in jedes Kindes Gehirn. So wie auch Gegensätze. Es ist ein ausgeklügeltes Prinzip, welches man nicht hinterfragen soll...