Selma huschte zurück in die Küche, in welcher eine wippende Amalia auf dem Barhocker saß. Als sie hereinkam, sah diese die Schwarzhaarige erwartungsvoll an. Seelenruhig machte sie den Wasserkocher an.
"Hungrig?" Spitzbübisch sah sie die ungeduldige Amalia an. Diese schüttelte den Kopf und Selma zuckte mit den Schultern. Wann aß sie das letzte Mal?
Sie bereitete einen Obstsalat zu, während sie Multitasking mäßig den Tee in die Tassen goss.
"Selma? Könnte...könnte ich doch ein bisschen von dem Obst haben?" Sie nickte wissend und schnitt für zwei Personen Bananen, Äpfel und Erdbeeren zurecht.
Beide Schalen legte sie auf den Tisch, sowie die kochend heißen Tassen. Sie setzte sich gegenüber von Amalia hin.
"Was machst du so alleine in den Bergen?"
Sie beobachtete jede einzelne Fassette ihres Gesichtes. Sie war ein Kunstwerk und Selma wollte die Künstlerin sein.
"Ich wollte Abenteuer erleben." Amalia tat sich schwer mit der Sprache, doch sie merkte gleich, dass das rothaarige Mädchen stur und zielstrebig war.
Sie zog eine Augenbraue in die Höhe. "Und dafür gehst du in die langweiligste Gegend überhaupt?"
"Ist es hier langweilig?" Amalia hatte so ein mysteriöses Grinsen aufgesetzt, welches sie sogleich viel älter wirken ließ. Selma kam sich vor, als wäre sie in eine hinterhältige Falle getreten, ihre Haut knisterte unter den Blicken, dieses nichtssagenden Lächelns.
Sie zuckte ratlos mit den Schultern. Für Selma war es hier nicht langweilig. Ihr hatte es immer gereicht. Für sie war es immer genug, was diese Region ihr bot. Doch Amalia war anders, sie mochte sicherlich keine, in der Zeit hängengebliebene Orte.
"Warum willst du bleiben?" Amalia schwieg Sekunden. Selma kam das wie Stunden vor.
"Weil ich dich mag."
Weil sie Selma mag? War das Amalias Grund, um bei einem kompletten Fremden zu hausen? Nur weil ihr Bauchgefühl ihr das Gefühl gab, die Person vor ihr, war Mögens wert?
Selma verließ sich schon seit Ewigkeiten nicht mehr auf ihr Bauchgefühl. Eigentlich würde sie sofort nein sagen, bei sowas. Als ob sie eine Fremde hierbleiben ließe. Wie verrückt müsse man sein?
Doch das war nicht nur eine Fremde. Das war Amalia. Das Mädchen, welches unerwartet vor ihrer Haustüre aufkreuzte und Selma die Definition einer vollkommenen Perfektion zeigte.
Sie überlegte keinen Moment mehr. Überlegen führte doch noch nie zu etwas. Egal, wie lange man es tat, man kam zum selben Ergebnis, wie am Anfang, denn wie man so schön sagte. Alle Wege führten nach Rom und so führte sie ihr Weg zu Amalia.
"Okay."
Selma schockierte ihr ganzes Auftreten. Wie sie mit Amalia sprach. Wie sie offen und neugierig ihr gegenüber war. Wie sie zuließ, dass sie bei ihr sein durfte.
Denn das war der Punkt. Selma kam hier herum allein zu sein. Abgeschottet von jeglichem Kontakt zu Menschen, welcher ihr schaden könnte. Kontakt zu Menschen, welche sie mögen könnte.
Hier, allein in den Bergen, würde ihr keiner seelischen Schmerz zubereiten können. Ein weiterer Grund war der stetig wachsende Ekel gegenüber der menschlichen Rasse.
Diese Arroganz, diese Unüberlegtheit, die Vorurteile, die Oberflächlichkeit, der Hass, welcher überall herrschte.
Mord, Ungerechtigkeit, Sexismus, Rassismus, Diskriminierung, Naivität, Faschismus und Gewalt.
Das ekelte sie an. Die Menschen hörten sich gegenseitig nicht mehr zu. Sie konnten sehen und hören, doch nahmen nichts mehr war.
Starrten auf ihre Mobiltelefone und andere Sinnlosigkeiten und vergaßen nebenbei das eigenständige Denken. Sprachen Vorurteile und Gerüchte nach, von denen sie keine Ahnung hatten.
Die Menschheit lief durch die Gegend und predigte von so allerlei Problemen auf dieser Welt, doch sie taten nichts dagegen. Doch am schlimmsten waren die, die diese Probleme nicht mal einsahen, sie waren so verblendet von ihrem zukünftigen Reichtum und der Prominenz, dass sie ihren Sinn auf diesem Planeten absolut verdrängt hatten und nur noch ihre Macht anstrebten.
Selma ekelte dieses ganze System der Heuchlerei an. Sie wollte kein Teil dieser schamlosen Rasse sein. Sie tat so vieles, um sich besser zu fühlen, doch es brachte nichts. Nein, eher wurde sie verzweifelter und schließlich verließ sie der Glaube an Besserung. Warum war sie so pessimistisch? Selma ärgerte sich unaufhörlich über diese grässliche Charakterschwäche.
"Selma? Bist du noch da?" Fragend beobachtete sie Amalia und ihre hellen Augen ließen sie die ganze Verzweiflung vergessen. Zu mindestens für einen Moment.
"Ja, ja alles gut, Amalia." Diese lächelte auf ihre Worte glücklich und Selma sah sie skeptisch an.
"Was?" Das sommersprossige Mädchen schlenderte zu dem Sofa.
"Nichts. Ich mag es nur, wenn du meinen Namen sagst. Das klingt very beautiful aus deinen Lippen."
Selma schüttelte amüsiert ihren Kopf. "Du meinst wohl, es hört sich schön an, aus meinem Mund?"
Amalia drehte sich zwei Mal im Kreis und sah sie nun frech an.
"Habe ich doch gesagt. Oui oui."
Selma lachte über Amalias kindische Art und wollte gleichzeitig mehr von dieser Seite ihrer Person wissen.
Es war acht Uhr morgens und die Sonne schien herrlich.
"Was ist dein Ziel Amalia?"
Die Gefragte sah sich wieder Selmas Bücherwand an und schlug öfter mal ein Buch auf, um es durchzublättern und dann wieder zurückzulegen.
"Von meinem Weg? Ich weiß nicht. Ich wollte einfach weg und weg von Menschen und hier gab es wenige Menschen. Ich glaube aber ich ziehe in eine Stadt oder ein größeres Dorf. Ich brauche Menschen by me. Ich bin. Wie sagt man? Extrovertiert?"
Als die Braunhaarige bejahend nickte, grinste Amalia stolz über sich selbst. Bewundernd verfolgte Selma sie mit ihren Blicken. Als kaum Deutschsprechende war sie unheimlich gut und wissbegierig.
Amalia war das komplette Gegenteil zu Selma. Amalia war hyperaktiv, optimistisch, spontan und extrovertiert und was weiß der Kuckuck noch.
Dagegen war Selma eher ruhig, ein eingefleischter Pessimist, immer durchgeplant und ordentlich und dazu noch ein absolut introvertierter Mensch.
Man könnte meinen, sie wären die Definition für das Yin Yang Symbol. Selma die Yin-Seite und Amalia die Yang-Seite.
"Warum lebst du hier Selma?"
Sie senkte mit sich rankend den Kopf. Sie vertraute sich nicht gerne Menschen an. Absolut nicht gerne. Sie vertraute keinem. Konnte das nicht. Konnte das noch nie.
"Weißt du Amalia, manchmal ist das Leid der Welt zu viel, sogar für die stärksten Menschen."
Sie hakte nicht weiter nach und Selma war ihr dafür mehr als nur dankbar.
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Antonym - Die Philosophie der Gegensätzlichkeit {✓}
Novela JuvenilWir Menschen haben eine bestimmte Abfolge, ein bestimmtes System in unser Leben gemeißelt, welches von Geburt an eingebrannt wird in jedes Kindes Gehirn. So wie auch Gegensätze. Es ist ein ausgeklügeltes Prinzip, welches man nicht hinterfragen soll...