P r o l o g

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Mein liebster Max,

Als wäre es gestern gewesen, weiß ich noch genau, was ich an jenem Tag trug. Es war das leichte Sommerkleid meiner Schwester gewesen, darüber eine alte Jeansjacke, die ich mir aus dem Schrank meines Vaters genommen hatte und die Cowboystiefel meiner Mutter.

Damals trug ich also meine ganze Familie bei mir, als ich dich das erste Mal traf.

Ich weiß noch genau, wie ich aussah. Mein helles Haar war frisch geschnitten, ich hatte es hochgesteckt und einzelne Strähnen hatten sich ihren Weg hinaus geschlichen und umspielten mein Gesicht.

Es war ein stürmischer Tag; Die gekippten Fenster in der Straßenbahn klapperten vom Wind, dessen Kälte ein Gänsehaut über meinen Körper zog. Niemand konnte die klemmenden Fenster schließen, so ertrug ich es, bis meine Station auf dem Monitor angezeigt wurde. Ich stolperte von meinem Sitz bis zu den rechten Seitentüren der Bahn, welche noch in Bewegung war – zu stark in Bewegung. Obwohl ich mich noch an einer Stange festklammerte, war es zu spät: Die Bahn bremste scharf und ich traf auf den harten Boden.

Gerade als ich wieder aufstehen wollte, öffneten sich die Türen. Das ist dein Einsatz, Max. Der Augenblick, in dem ein junger Mann mit sturmgrauen Augen und lockigem Haar einstieg.

Du hast mir aufgeholfen. Mir blieben die Wörter im Hals stecken, so fasziniert war ich von deinen Augen. Aber warum floss in ihnen denn auch das Meer höchstpersönlich?

Durch die ganze Aufregung hatte ich meine Station verpasst. Ich tat so, als wäre es meine Absicht gewesen und als müsste ich erst später aussteigen, denn ich wollte dich nicht verlassen. Du hast mich angezogen wie ein Bann.

Ich erinnere mich noch an die eine braune Locke, die dir ins Gesicht fiel, auf deine Ader an der Stirn, die immer hervortrat, wenn du lachtest. Wie ich diese Ader liebte. Wie ich deine Locken liebte. Die ganze Zeit über, die wir nebeneinander in der Bahn saßen, hatte ich den Drang, dir die Locke aus der Stirn zu streichen. Wie viel Beherrschung es mich kostete, es nicht zu tun.

»Wann musst du aussteigen?«, kam irgendwann deine Frage, vor der es mir graute. Der bloße Gedanke, dich zu verlassen, verpasste mir einen Stich ins Herz.

»Endstation«, flunkerte ich, ein wenig niedergeschlagen. Du musst es bemerkt haben, denn du hast mich angelächelt, mit deinem Engelslächeln.

Anstatt mir deine Nummer zu geben, schriebst du deine liebste Bibliothek auf ein Taschentuchpapier. »Die altmodische Weise ist die schönste Weise« waren deine Worte dazu. Damals fand ich es romantisch, doch heute weiß ich, dass du es nur wegen deiner Freundin getan hast.

Als ich erfuhr, dass du in einer Beziehung warst, war ich am Boden zerstört. Doch schon nach drei Monaten hast du Schluss gemacht. Betrunken kamst du zu mir. Ich wusste mittlerweile, dass du nicht ganz der Engel warst, wie ich es bei unserem ersten Treffen gedacht hatte und trotzdem waren wir nächsten zwei Jahre ein verdammt glückliches Paar.

Du hast viel Scheiße gebaut. Aber Max, ich wünschte, ich wäre dir nicht böse gewesen.

Denn Tage später, an deinem ersten Tag im Studium, kam der Anruf.

Als ich an deinem Bett kniete und deine eiskalte Hand hielt...

Dein tödlicher Unfall ist heute ein halbes Jahr her. Die Erinnerungen an dich, an uns zusammen, überfallen mich noch immer, Tag für Tag. Aber weißt du, was das Schlimmste ist? Was mich nachts wach hält, was in meinen Alpträumen wandert?

Alle meine Vorstellungen für unsere gemeinsame Zukunft, alle meine Zeichnungen und Pläne – sie sind nun nutzlos, leer, Versprechen, die nie erfüllt werden können und Träume in Seifenblasen, die alle auf einmal zerplatzen.

Ich hatte mir bereits ausgemalt, wie es sein würde. Ich käme nach Hause von meinem Job als Malerin, mein Blaumann wäre voller Farbe. Du würdest mir die Tür öffnen, mich in unsere Altbauwohnung ziehen und die obersten Knöpfe meines Blaumanns aufknöpfen. Sagen würdest du, dass ich sie immer auflassen solle, weil ich darauf stolz sein könnte, was ich hätte. Ich würde dich für verrückt erklären und trotzdem lachen, meine Hand würde über deine stopplige Wange streichen. Irgendwann würdest du mir den Blaumann ausziehen und auch meine geflochtenen Zöpfe lösen. Wir würden Til und Emma von der Schule abholen und sie unsere vier Katzen oder unser Hausschwein füttern lassen – je nach dem, wer von uns Beiden sich durchgesetzt hätte. (Wag es ja nicht, anzuzweifeln, dass ich so was von gewonnen hätte, Maximilian!)

Und noch ein Punkt. Maximilian. Außer in diesem Tagebuch werde ich dich nie wieder so nennen können. Du wirst nie wieder mit einer beleidigten Schnute sagen: »Max. Ich heiße Max.«

»Macks?«, werde ich dich nie wieder stecheln.

»Nein, Mäx. Englisch ausge- ach, du verarschst mich doch eh«, wirst du nie wieder den Kopf schütteln und gegen meinen Mund lachen, bevor du mich küsst.

Du hast nicht die geringste Vorstellung, wie sich das anfühlt.

Und ich hoffe dass ich dir verzeihen kann, Max, eines Tages, dass du an jenem Tag in mein Leben getreten bist und mich zum glücklichsten Menschen gemacht hast. Denn wäre ich nicht so glücklich gewesen, wäre ich heute nicht so gebrochen.

Was rede ich hier? Das einzige, was ich dir sagen und ausdrücken will mit diesen verdammt schwierigen Sätzen in diesem alten Buch ist doch nur, dass ich dich liebe.

Denn der Tag als der lockige, junge Mann mit den Sturmaugen in die Bahn einstieg, wird mir für immer in Erinnerung bleiben.

In Liebe,

Drew

September RainWo Geschichten leben. Entdecke jetzt